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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ging. Später schaute er den Schauspieler bei dessen Ablenktexten nur groß an und ließ sich dann von ihm ohne Dank, ohne überhaupt ein Wort, heimbringen, bis die Nachbarschaft endete mit einer Abberufung Andreas’, desWirtschaftsexperten, in die Mongolei, wo er, wie verbreitet wurde, etwas voranbrachte.
    Bei dem Freund hatte er von sich seitdem keinmal hören lassen, und auch allgemein war er wie verschollen, niemand wußte mehr etwas von ihm, keine Zeitungs- oder sonstige Nachricht, und der Schauspieler, dem er immer wieder in den Sinn kam – noch an diesem Morgen, wie ihm nun bewußt wurde, hatte er sekundenweise heftig an Andreas gedacht –, hatte sich nie etwas anderes als dessen spurloses Verschwinden, ein endgültiges, in der Wüste Gobi vorstellen können. Wenn nicht, hätte er sich gemeldet, und wenn bei niemandem sonst, dann bei ihm, seinem langjährigen guten Nachbarn. »He, Nachbar, da bin ich wieder!«
    Da war er nun wieder. Nur ein Sichmelden war das nicht. Und obwohl er den Schauspieler groß anschaute, größer denn je, was wie ein Lachen übers ganze Gesicht wirkte, wenn auch ohne Lachenslaute, und dann gar zu reden anfing, konnte man das kein Sichsehen- und Sichhörenlassen nennen. Oder doch? Oder doch? Was er von sich gab, waren keine ganzen Sätze, nichts als einzelne Wörter, oder Worte, welche Sätze sein wollten. Wollten? Ja, da war also ein Wollen in ihm übrig, oder ein Rest davon.Er bewegte kaum die Lippen, seine Stimme, die einmal fast geschallt hatte, von Garten zu Garten, näherte sich von Wort zu Wort mehr der Hörgrenze, so tonlos und jedesmal tonloser wurden sie, und doch schien das Wollen, die Dringlichkeit, die Anstrengung zu sprechen, zuzunehmen, so wie es der Schauspieler von Sterbenden in Filmen, vor allem in den Western, kannte.
    Er begann mit Hauptwörtern und ging schließlich über zu Zeitwörtern und anderen: »… Schneeballschlacht … Kreidetafel … Fenstersturz … Wasserläufer … Frühäpfel … Tempelhüpfen … Gasmasken … Handgranaten … Hitler … Knieheben … Geldwechseln … Heidelbeeren … Ohrfeigen … Geld oder Leben … Berg und Tal … So grün … So lieb … Umdrehen … Heimgehen …«
    Das letzte der Wörter sagte er dreimal, und verstummte, wonach er den Schauspieler weiter groß anschaute, als sei der an allem schuld und zugleich derjenige, auf den er all die Zeit gewartet hatte, nicht damit er ihm helfe – das war ein Ding der Unmöglichkeit –, sondern um ihm das soeben Gesagte zu sagen, ihm, dem Verantwortlichen, ins Gesicht. Der Schauspieler seinerseits, obwohl Andreas ihn offensichtlich nicht erkannte, schon gar nicht als den früheren Nachbarn, wußte, daß er gemeint war, er und allein er, und er im Innersten, er als er selbst, und daß er diesem Angeschautwerden jetzt standzuhalten und darüber hinaus auf die Worte eine Replik, die einzig richtige, zu finden hatte; wenn nicht, hätte er versagt, und der Tag käme in die Kippe; wäre er ein Versager, über den Tag hinaus. Das war kein Spiel, wie es zwei Kinder spielen, oder einmal gespielt haben – wir starren einander in die Augen, und wer als erster blinzelt, oder wegschaut, hat verloren –: Es war ernst. Es ging um viel. Es war eine Prüfung. Und geprüft wurde jene Waage an seinen, des Schauspielers, Augen, die bis heute jedenfalls, noch immer Replik, Antwort genug gewesen waren. Wehe, wenn er jetzt dem Blick des Gegenüber nicht standhielte. Er sähe sich für immer als einen Betrüger.
    Zu dem entscheidenden Moment kam es nicht, »noch nicht«, sagte er danach zu sich selber. Die Frau auf der Buswartebank zupfte am Ärmel der Windjacke ihres Pflegefalls – wenn Andreas einer war, sein Freund wollte es nicht glauben – riß daran und zerrte: Zeichen, der Bus nähere sich. Aufstehen! Sich bereit machen zum Einsteigen! – worauf der Schauspieler so oder so ausweichen mußte, zur Seite trat und, ohne Entscheidung, seinen Weg fortsetzte. Als er nach ein paar Schritten einhielt, um in den Bus zuwinken, fuhr der vollkommen leer vorbei, leer wie nur Busse im Hochsommer an den Rändern von Millionenstädten. Er ging also weiterhin im Randbezirk … Und beim Blick über die Schulter war das Paar immer noch im Unterstand, die Frau stehend, der Ex-Nachbar sitzend, durch nichts, aber auch gar nichts von der Stelle zu bewegen. Einzige Bewegung an ihm: in der Windjacke der Wind.
    Für einen Augenblick war der Schauspieler nah dran, kehrtzumachen – wobei er merkte, wie oft an diesem

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