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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Tag er schon damit gespielt hatte (»nur nicht in die Stadt, nur nicht bis ins Zentrum«) –, die Pflegerin, oder was sie war, kurzerhand wegzuschieben, sich neben den andern auf die Wartebank zu setzen und sich wie er durch nichts mehr von der Stelle bewegen zu lassen. Und zugleich die Phantasie: Wenn er das täte, würde die Ausländerin sich stracks zu einem Monster auswachsen, und es wäre um Andreas, und ihn selber, geschehen. Die Phantasie malte ihm nichts aus, und wirkte umso stärker – stärker auch, als reine Phantasie, als jeder Gedanke und jede Vorstellung. Und so ging er weiter, schnell. Fast wäre er ins Laufen gefallen, was bei seinem Hindernisgang-Sport die sofortige Disqualifikation zur Folge gehabt hätte.
    Meinem Schauspieler entsprach, das war von klein auf so gewesen, eher der gesenkte Kopf. Seine Fliesenlegerzeit hatte das noch verstärkt. Ihm war, er sei gemacht für den Blick zu Boden; für den zum Himmel dagegen mußte er sich ermannen, und in seinen Filmen kam dann eher ein Hinaufschielen zum Vorschein, für die Zuschauer umso wirksamer. Doch jetzt, sich von dem Hilflosen entfernend, selber hilflos, reckte er ohne Zutun den Kopf, in einer Art Wut. Im sonst weithin blauen Sommerhimmel eine einzelne Spur dicker schneeweißer Wolken: Schneeklumpen, übriggeblieben von den Sohlen eines aus dem Schnee hinterm Horizont Gestapften und im jenseitigen Horizont schon wieder Verschwundenen; eines Schneewanderers. »Senk den Kopf, Freund!«
    Es war, als ob sein Blick zu Boden und das Helfenwollen zusammengehörten: Helfen entsprach ihm. Ihm, einem Schauspieler? »Ja.« Auch es, das Helfen, gleich wie der gesenkte Kopf, hatte ihm entsprochen von klein auf. Nur wurde daraus ein anderes Helfenwollen als das nicht weniger seiner namhaften Kollegen von »Film und Fernsehen«. Es lag ihm nichts an einem Stellungnehmen, an einem Unterscheiden zwischen den Guten, die Hilfe verdienten, und der Seite der Bösen, die, welche nicht. Überhaupt war Hilfe, für mehrere, Kollektive, Völker, gar Völkerder dritten bis unendlichen Welten nichts für ihn. Zu helfen drängte es ihn Einzelnen, und solchen, deren Not und Nöte nicht allgemein bekannt waren, überhaupt erst entdeckt werden mußten, ob arm oder reich, ob Wildfremder oder übersehener Nachbar.
    Wenn das so war, schien es ihm das natürlichste, nicht bloß zu helfen, sondern womöglich den einen, den andern, sogar zu retten. Ob er schon jemanden gerettet hatte? Zwar waren seine Rollen nie die von Rettern wie »El Cid«, oder »Don Juan« (der von Molière, der auch ein Retter sein konnte, zum Beispiel des Bruders einer Geliebten). Und doch hörte er von vielen seiner Zuschauer, er habe ihnen geholfen, ihnen gar das Leben gerettet, durch – wie auch immer – sein Spiel. »Sie haben mich immer wieder gerettet«, so wurde ihm geschrieben, oder auch nur: »die Ruhe zurückgegeben«, »mich daran erinnert, was mir einmal vorgeschwebt hat«, worauf seine Zuschauer regelmäßig etwas hinzufügten: Der eine wollte einmal mit ihm Fußball spielen, eine zweite wünschte, mit ihm ein paar Tage wandern zu gehen, ein dritter oder eine dritte wollte ihn »bekochen« oder ihm die Haare schneiden. Und ihm fiel jetzt ein, daß die Danksagungen und Dankschreiben spärlicher geworden und zuletzt fast ganz ausgeblieben waren. Weil niemand mehr gerettet werden wollte, zumindest nichtvon einem Film und einem Schauspieler? Weil niemand und nichts mehr zu retten war? Oder schlicht, weil keine Briefe mehr geschrieben wurden?
    Und weiter fiel ihm ein, daß er außerhalb seiner Arbeit, des Spiels, des Darstellens, draußen im Leben, bis zum heutigen Tag keinen einzigen Menschen hatte retten können. Zwar war er ständig auf dem Sprung gewesen, ins Wasser, in die Flammen, hinunter auf die U-Bahn-Schienen zum Wegreißen eines Hingestürzten im Moment der Einfahrt des Zugs. Aber es war nie so recht dazu gekommen, das Amgürtelpacken eines gefährlich nah an die Schienen Geratenen konnte man kein Retten nennen, ebenso nicht das Anlandtragen der auf einer ufernahen Sandbank von der steigenden Flut eingeschlossenen Frau, oder das Tauchen, das eher übertriebene, nach seinem Sohn damals, als dieser als Kleiner in einem Alpensee plötzlich den Stand verloren hatte.
    Recht bedacht, war es weniger dieses mit Händen und Füßen eingreifende Retten, auf das er so besonders aus war. Als einen inneren Retter stellte er sich vor. Zum Seelenretter sah er sich, wenn es darauf ankäme, fähig. Im

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