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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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erst hinzuhören.
    Die Zeit der Geschichte vom Großen Fall war auch die der großen und kleinen Kriege. Die großen wurden, ohne daß ein Ende abzusehen war, ausgetragen in den, für uns Hiesige, uns Westler, dritten Ländern, die kleinen aber bei uns daheim, tagaus und nachtein, anders tödlich, und auch da kein Ende abzusehen. Bürgerkriege? Unsinn: die schienen, bei uns jedenfalls, ausgereizt, und würden sie doch wieder aufleben, so wären sie, wie seit jeher die Bürgerkriege, nicht klein, vielmehr die größten, oder die grausamsten. Nein, im jeweils eigenen Land war das die Zeit der Nachbarnkriege, ein irreführender Ausdruck, weil da immer nur zwei aufeinander losgingen und sich deren Familien, wenn sie, eine Seltenheit, überhaupt eine hatten, in der Regel aus den Kampfhandlungen heraushielten. Und trotzdem waren es Kriege wie nur welche. An einen Friedensschluß war, im Unterschied zu den großen Kriegen, wenigstens denen von früher, nicht zu denken. Der Nachbarnkrieg konnte nur enden mit dem Tod, dem so oder so gewaltsamen, eines der beiden oder der beiden Kriegführenden gemeinsam. Worte standen außer Frage, und sowie nicht mehr geschrien wurde, hieß das: der tödliche Ausgang, ein- oder zweifach, war nahe.
    In den Zeitungen gab es besondere Rubriken dafür, die sich täglich verlängerten. Gründe für dieseKriege: keine, weder der Lärm, noch eine andere Sprache, Hautfarbe, Religion, noch gar das vielleicht uranfängliche Einandernichtriechenkönnen. Meist waren die kriegführenden Parteien Leute ungefähr gleichen Alters, hatten einen ähnlichen Beruf, eine ähnliche Herkunft, verwendeten ähnliche, meist Fachausdrücke, wie sie einander überhaupt in allem ähnlich waren. Gesellschaftswissenschaftler hatten versucht, eine Erklärung darin zu sehen, die lange Friedenszeit in unseren Breiten habe, als eine Art von physikalischer Kraft, im Innern der Einzelnen den Raum geschaffen für einen ungeheuren Haß auf alles und jeden, und der dränge dazu, ausgelebt zu werden, und zwar an dem unmittelbaren Nachbarn – der um noch eine Tür oder noch ein Haus weiter käme als Objekt schon nicht mehr in Betracht, man wäre, oder spielte, mit dem sogar eigens gut Freund. Mit solchen Gründen waren jene Psychophysiker freilich nicht durchgedrungen. Die Nachbarnkriege galten weiterhin als unerklärliches Phänomen, was auch mit der Jähheit und der urmenschhaften Wildheit zu tun hatte, womit die Gewalttätigkeiten jedesmal losbrachen. Ein Mann trat vor seine Gartentür, und sein Nachbar ging mit dem Weltkriegssäbel seines Vaters oder Großvaters auf ihn los. Ein anderer fuhr rückwärts aus seiner Garage auf die Straße und wurde gerammt von seinem Nachbarn, der ihm beilaufendem Motor schon die längste Zeit aufgelauert hatte. Wieder ein anderer wurde von oben mit siedendem Pech überschüttet, und noch einer, und, lang nicht der letzte in der täglichen Rubrik, bekam, während er feierabendlich auf seiner Terrasse die Zeitung umblätterte, von seinem unversehens durch das Gebüsch gebrochenen Nachbarn einen Nackenschlag mit einem Holzprügel, wie ihn Kain gegen seinen Bruder Abel kaum weniger wild geschwungen haben wird.
    Solchen Nachbarnkriegen begegnete der Schauspieler auf Schritt und Tritt. Nur waren die Kriegshandlungen nicht gegen die andere Person gerichtet. Die Gewalt galt nicht, oder noch nicht, ihr, sondern erst einmal ihren Sachen, und sie war dabei auch nicht zugegen, der Kriegführende tobte für sich allein, an und auf des anderen Sache, als dessen Stellvertreter, und der Gewalttätige begleitete das mit Worten, geschrienen, blieb im Attackieren nicht stumm, noch nicht. Einer hieb mit der Eisenstange auf ein Autodach. Einer stürmte mit dem Preßlufthammer auf eine in den Regenbogenfarben bemalte Mülltonne los, die der seinen wie auch den übrigen in der Straße – alle trotz ihrer Größe wie für mehrere Häuser übervoll – glich wie nur eine Mülltonne der andern. Einer trampelte unter Kriegsgebrüll auf einer Art Windrose herum, die er mithilfe eines Lassos von dem Nachbardachfirst gerissen hatte. Einer vollführte seinen Kriegstanz auf des Nachbarn Riesenaußenthermometer. Einer pißte von einer Stehleiter auf das feindliche Zucchinibeet. Einer sprang an der Grundstücksgrenze auf und nieder und zerstückelte die Feindesluft mit einem Peitschenknallen, lauter als von einer Zirkuspeitsche. Einer hatte nah der Frontlinie aus weißgott für Abfall ein Feuer angefacht und blies den

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