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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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stinkenden Rauch in Richtung Feind mit einer der Höllenmaschinen, mit welchen sonst auf den Straßen, und nicht bloß dort, das Laub werweißwarum zusammen mit dem Staub und allem möglichen Unrat aufgewirbelt und in den Raum verteilt wird. Es war eine Endzeit. Aber man hatte sich an diese gewöhnt. Sie würde nie enden.
    Bei einem aus dieser Mordlust-Reihe, und es war nicht der letzte, hätte mein Schauspieler um ein Haar eingegriffen. Ihm das Hackbeil, mit welchem er, stumpfes Ende voraus, auf den benachbarten Gartengrill einhieb – im eigenen Garten stand das gleiche Modell –, aus der Hand gerissen und ihm mit dem scharfen Ende den Schädel gespalten bis auf den Schreihals! Zu seinem Glück kam ihm, bevor er das tat, »jetzt tu ich’s!«, im letzten Moment eine Szene aus dem Drehbuch über den Amokläufer, einen garnicht slapstickhaften, zu Bewußtsein, und ohne sein Glück besonders zu spüren, ging er weiter stadtein.
    Wie der Himmel blaute, und wie der Sommerwind wehte, und wie herzöffnend das Spiel von Sonne und Schatten in Gartenbüschen, und wie der allgegenwärtige Gott oder sein Orakel sprach aus dem Sausen der Bäume und aus dem Säuseln der Luft, und sprach, und sprach: »Gebt Frieden, Brüder, Kinder, Geschöpfe: Aufschauen und Lauschen, Einkehr und Umkehr, und wiederum Umkehr – da sein ist groß«; und wie doch keiner dieser Zerstörer darauf hörte, die Idee hatte, ja, die Idee, aufzuschauen und zu lauschen, und sich bei seinem Weltkrieg im Recht glaubte, und ihn sogar für gottgefällig, ja, gottgewollt hielt. Die Worte Gottes oder seines Orakels würden vergehen, oder sie waren schon vergangen, seit wann? seit den Völkermorden? seit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki? oder schon seit den Totenmillionen des Ersten Weltkriegs? oder noch vorher? und mit den Worten Gottes würden Himmel und Erde vergehen, oder waren schon längst vergangen, die Erde hatte aufgehört, die Welt Gottes wie die der Menschen zu sein? »Ich hätte denen doch durch die Reihe die Schädel einschlagen sollen«, sagte er laut zu sich selber: »Ihnen die Gehirne aus den toten Augen und Ohren spritzenlassen, mit einem Handkantenschlag das Genick brechen, mit einem Flammenwerfer sie zur Hölle – ah, wenn es die nur gäbe! – schicken, und all das morgige Filmen hätte sich erübrigt …« – Manchmal glaubte er sich, gerade als Schauspieler, zum Menschenfeind bestimmt, vor allem in den Zeiten des Müßiggangs. Oder er war, anders gesagt, wie nur je ein Schauspieler, insbesondere im Müßiggehen bereit für alles und nichts.
    Unversehens war er auf dem Sprung, einzugreifen, sich zumindest einzumischen. Statt dessen fiel er in einen Lauf, weg von den Kriegsschauplätzen, einen langsamen Lauf, mit dem er, frei nach dem Satz »The whole man must move at once«, sich jeden einzelnen Teil seines Körpers bewußt zu machen und die Teile zu verbinden suchte, einen Lauf, den er bei sich, in Erinnerung an den Titel eines alten Films den Sanften Lauf nannte. Seit längerem kam ja fast regelmäßig während eines Tages der Moment, da es ihn, nur für kurze Strecken, auch bloß für einige Schritte, zum Laufen drängte. »Jetzt ist die Zeit für den Sanften Lauf!« sagte er zu sich selber. Am Tag des Großen Falls war die Zeit für den Sanften Lauf so früh wie noch keinmal gekommen. Und der Lauf hatte auch nicht die Wirkung, welche allein schon von seinem Namen ausging. Und was war sonst darüberhinaus seine Wirkung gewesen? – Der Sanfte Lauf hatte ihm die Umgebung vermessen, sie zu Kreisen, Dreiecken, Quadraten, Trapezen, Parallelogrammen geformt in dem Sinn des alten Satzes: »Stetig vermißt der Gott die Erde.« Immerzu »geometrisierte« der Gott? Der Sanfte Läufer als Geometer? Als Erdumkreiser? Oder, wieder anders gesagt, der Sanfte Lauf als nicht nur die Wasser-, vielmehr zusätzlich die Luft-, Feuer- und Erdwaage – die Elementarwaage? Das Elementarmaß?
    Unvermittelt verspürte der Schauspieler im Laufen einen Hunger. Es war der zweite Hunger an diesem Tage, und erst der richtige. Es war das ein Hunger nach Speisen, und ein Hunger nach mehr, viel mehr. So mächtig war er, daß er, der Hungrige, nein, der Hungernde, sich den Tränen nahe fühlte. Gleich würde er weinen, nein, in Schluchzen ausbrechen und nie wieder damit aufhören. Nein, weder weinen noch schluchzen würde er, vielmehr, bekäme er den Hunger nicht alsbald gestillt, auf der Stelle sterben. Der Hunger nach Essen wurde gesteigert durch den Hunger

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