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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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etwas davon. Und außerdem erwiesen sich alle die Rand- und Zwischengegenden als ziemlich bevölkert, von Menschen wie von Tieren, eine Stunde lang jedenfalls, während welcher die große hochsommerliche Abwesenheit, außerhalb der Mitte, aufhörte zu gelten, erst unmerklich, dann mit einem Schlag.
    Allmählich machten die Paare von Uralten und Blutjungen Gestalten Platz, in denen man selbst bei gutem Willen keine Paare mehr sehen konnte. Entweder waren das Vereinzelte, auch sie von Straße zu Straße zunehmend wie in der Tiefe die Ambulanzwagen, oder ganze Schwärme, Insekten, Vögel, Vierbeiner, Zweibeiner. Auf die zwei Tauben etwa von vorhin, einander nachgeflogen von Dach zu Dach, friedliche Paare wie nur je welche, folgten Horden von gar nicht sommerlichen Krähen, die Jagd auf kleinere Vögel machten, und sich nicht und nicht verscheuchen ließen, sowie sie den einen einzelnen Spatz oder Specht mit ihren Schnabelhieben sterbend in den Rinnstein gestreckt hatten, mit einem Anbrüllen des ihnen in den Weg Tretenden so bedrohlich wie das der Hitchcockschen Möwendämone. Was ihn dazu in die Hand, den Hals und den Nacken biß, das waren nicht Wespen oder sonstwelche Stecher, sondern unversehens von werweißwodahergeflogene Schwärme zierlicher, wie zerbrechlicher, beinah durchscheinender Heupferdchen. Und es war kaum übertrieben, daß diese Stunde lang sogar die zuvor paarweise durch die Lüfte in die Kreuz und Quer flatternden Schmetterlinge sich zusammenrotteten und in Sturzflügen herabstießen nicht nur auf ihn, sondern auf was sonst noch vom Erdboden aufragte, auf Grashalme und Kiesel gar, so als seien den Faltern selbst die Dinge zu Feinden geworden.
    Bevölkert waren jetzt auch die Schulhöfe, obwohl schulfrei war und lange noch bliebe. Da rannten, von den Schreien der Betreuer dirigiert, alle die Kinder durcheinander, welche in den betonierten, manchmal aber auch frisch begrünten, von hohen Zäunen umgebenen Höfen einen Teil der großen Ferien, oder die ganzen, verbrachten. Und man konnte darauf wetten – und diese Wette mit sich selber gewann er –, daß hinter einem jeden der Zäune, an der Seite hin zur Straße, abseits, ein einzelnes Kind stand, sehr oft ein schwarzes, so wie überhaupt die schwarzen Kinder in den Höfen bei weitem die Mehrzahl ausmachten. So ein Kind, auch darauf war zu wetten, hatte jedesmal die Hände durch die Zaunmaschen gesteckt und suchte den Blick des Vorbeigehenden. (Diese Wette war freilich schon weniger sicher.) Diedritte der Wetten dagegen verlor er ein ums andere Mal: Auf sein, des Schauspielers, Zurückblicken durch den Zaun, kein Anschauen, geschweige denn ein Anlächeln, würde das Kind lächeln, beiseite, oder in sich hinein. Es kam sogar vor, daß der Abseitssteher, als habe er darauf gewartet, auf ihn losspuckte. Bloß war die im voraus im Mund angesammelte Spucke so zäh geworden, daß sie am Maschendraht hängenblieb, oder daß der Spucker (es gab auch eine kleine Spuckerin) sich selber anspuckte.
    Andere Einzelne waren die Uralten ohne Begleiter, die mit ihren vollen Einkaufswägelchen auf dem Heimweg von unsichtbaren Supermärkten auf einer der Straßenrandbänke Rast machten. Die Bänke standen jeweils so, daß der Blick von ihnen weg auf eine Mauer, wenn überhaupt wohin, ging, und auf keinen Fall ins Weite, hinab in die Stadt und hinaus über die Horizonte. Diese sich häufenden Greise zitterten am ganzen Leib, wackelten mit den Köpfen – manche auch nicht, saßen still, bei geschlossenen Augen – und stießen von Zeit zu Zeit ein fast freundliches, wie von sich selber belustigtes Seufzen aus; zusammengehört von Bank zu Bank und Straße zu Straße, hätte das einen Seufzerchor oder -kanon ergeben. Und der sagte: »Ich – und ich – und ich bin gerade auf meinem letzten, oder vorletzten, Weg.Den will ich nutzen, und noch ein Weilchen hier im Freien bleiben. Wie verlassen und müde ich bin. Wie sinnlos die Hubschrauber vorbeiknattern. Schon wieder so ein Staatsbesuch, und schon wieder einer. Und gerade noch war ich ein Kind, ist das nicht sonderbar? Ein Kopfschütteln ist das, und kein Gewackel, Fremder. Und mein Zittern ist nicht bloß das Zittern des hohen Alters. Ob ich das Schlüsselloch finde und mit meiner Gichthand den Schlüssel umderdrehe? Und ob ich den Kühlschrank aufbringe? Und ob ich es bis zum Klosettbecken schaffe? Und der Sommer damals mit dir. Ah, Summer Wine. Summer in the City! Summertime Blues …«
    Wie in einem vorgegebenen

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