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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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auf eine, nein, auf die Frau, dort unten in der Stadtmitte – mit ihr eins werden, jetzt, und jetzt, nicht das Tier, sondern der Gott mit zwei Rücken –, und der Hunger nach der Frau wurde gesteigert durch einen Hunger nach – ja, nach was? nach wasnur? – Und endlich ging es ihm auf. So wenig der Schauspieler mit dem Goethe des Faust zu schaffen hatte, so wegweisend des anderen Goethe Spruch vom »Oberen Leitenden«, welches den Geist meinte. Ja, es war der Hunger auf Speise, auf Frau und auf Geist, alles in einem, den er in sich stürmen spürte. Da, auf der Stelle würde er sterben, träfe er nicht umgehend auf den Geist. »Veni, Creator Spiritus!«
    Wenn er nun Ausschau nach einem Gotteshaus hielt, folgte er allein seiner Todesangst, und es leitete ihn nichts als der Instinkt. Seit einiger Zeit schon war in all dem Getöse und Geschrei eine Glocke zu hören gewesen, kein Läuten oder Herbeirufen, sondern jeweils ein einzelner Schlag, im Abstand von mehreren langen Sekunden. Es wurde damit keine bestimmte Stunde angezeigt. Der sich wiederholende, nicht endenwollende Glockenschlag, immer der gleiche, war ein Mollton, oder rührte so an das Trommelfell. Obwohl eher leise, übertönte er, sowie man einmal auf ihn eingestimmt war, den Tumult unten auf der Erde und oben in den Lüften, auch das Brausen und Hupengellen von dem äußeren Ring der Stadtautobahn, dem er sich näherte. Der Einton der Glocke war von einer überwältigenden und mit der Zeit alles durchdringenden Traurigkeit. Eine Friedhofsglocke konnte es nicht sein, das da war kein Begräbnisläuten und erst recht kein Sterbeglockenbimmeln, wie er es selber einmal in Gang gesetzt hatte, beim Tode seines Vaters, nach dessen Verröcheln zur Kirche gelaufen in dem kalten Morgengrauen und an dem dünnsten der Glockenstränge dort gezogen, mit einer Hand bloß – so klein war es gewesen, das Totenglöckchen. Das jetzt dagegen mußte eine richtige Glocke sein. Und niemand, der daran zog, der Klöppel schlug automatisch an das Gußeisen, oder was es war, seinetwegen konnte es auch ein Gong sein, und die Glocke war eine Tempelglocke. Oder war es drei Uhr am Nachmittag, und das Glockenschlagen sollte an den Kreuzestod auf Golgatha gemahnen? Er wollte das nicht wissen, und hielt sich davon ab, nach der Uhrzeit zu schauen.
    Er hatte Zeit, »noch«, und so traf es sich, daß er dem Glockenton folgte: der kam, »ich bin mir einmal sicher«, von einem Gotteshaus, ob Kirche, Tempel oder Moschee. Es war eine Kirche, so klein wie die Häuser in der Straße, zu erkennen allein an einem Türmchen, in einem verblaßten Blau, obenauf ein angerostetes Kreuz, das auch eine Fernsehantenne sein konnte. Auf der Stelle ließ die Angst von ihm ab, und sein Lauf wurde der Sanfte – einer, der besänftigte, ihn, und gleichwelchen Entgegenkommenden. (Es kam keiner.) Und eines wußte er in seinem Heißhunger nach einem bestimmten Leib und ebenso nach dem Schöpfer Geist nun doch, im voraus: Das Gotteshaus wäre offen, und trotz der Nachmittagsstunde würde darin eine Messe gelesen, und er käme dazu gerade recht.
    So war es. Die Kerzen am Altar waren gerade angezündet worden, und der Priester saß schon im vollen Ornat in der offenen Sakristei und bereitete sich, in sein Buch versenkt und zugleich hellwach, auf das Amt vor. Der Schauspieler war der einzige in dem weitläufigen Schiff, und blieb es dann auch während des Gottesdienstes. Der Priester am Altar bewegte nur lautlos die Lippen, las eine Stille Messe, wie das früher einmal geheißen hatte, oder immer noch hieß. Der einzige Besucher verband solche Stillen Messen eher mit dem frühen Morgen, als die erste der Tagesmessen, lang vor den etwaigen anderen, so wie auch einst, bei seinem Sterbeläuten für den Vater in der Kirche des Urstromlandes eine Stille Messe im Gang gewesen war, ob bloß in der Vorstellung?
    Es war recht, daß vom Kyrie Eleison an hin über die Lesung der Epistel bis zu der des Evangeliums vom Altar her nichts in den Kirchenraum drang als die gelegentlichen Lippenlaute des Priesters beim stillen Memorieren; recht auch, daß der Besucher für denGeistlichen nicht anwesend schien: als feiere der den Gottesdienst ganz für sich allein, und als gelte das gelegentliche Kreuzzeichen, das er, sich zwischendurch umwendend, stumm in den Besucherraum schlug, genauso dem einzelnen Nachtfalter dort, dem in einem Sonnenstrahl wirbelnden Staub, dem leeren Schwalbennest unter der Empore und vor allem dem leeren Raum

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