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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Rhythmus folgten in dem Zwischenbezirk auf die Vereinzelten die Zusammengeballten, da und dort Zusammengerotteten, oder das ergab sich aus seiner, des Schauspielers, Art, wahrzunehmen. So begegnete ihm in einer sonst leeren Sommerstraße eine Rotte von Halbwüchsigen mit Blicken, die auf Böses aus schienen, Stöcke schwingend, so daß es ratsam war, in einem Bogen auszuweichen. Aber gerade das mochte sie anstacheln, und er wich ihnen nicht aus, wurde noch langsamer, als er war, und nahm den Weg zwischen ihnen durch, und siehe, die Rotte, wenn es überhaupt eine hatte sein wollen, löste sich auf, und einer derJugendlichen, wie von sich selber überrascht, grüßte ihn, während sein Nebenmann ausrief: »Schaut, ein Kreuzritter!« und das einzige Mädchen in der Gruppe – immer gehörte zu solchen »Gangs« eines, ein einzelnes, in der Regel verwegener als die Jungen, und ohne Attitüde – ihm frei in die Augen blickte und sagte: »Du gehst in die falsche Richtung, Fremder.« Die Stöcke, welche die Jugendlichen durch die Stille pfeifen ließen, waren Baseballschläger, nachrichtenweise bekannt als Totschlagsinstrumente, aber sie hatten, das zeigte sich erst auf den zweiten Blick, auch die zugehörigen Fanghandschuhe und Bälle dabei. Wie oft war es meinem Schauspieler untergekommen, daß ein erster Blick ein Vorurteil war und das mögliche Weitere verstellte. Wäre er Lehrer an einer Schauspielschule – »wovor Gott mich behüte!« –, so hätte er seinen Schülern den zweiten Blick nähergebracht.
    Nach der Gang traf er, in wieder einer Sommerstraße, auf den Einzelnen, welcher in der Tat dabei war, eine Haustür aufzusperren. Das war kein fast Hundertjähriger, sondern ein junger Mann. Nichts Auffälliges zuerst an ihm, außer daß er, sonderbar bei dem, wie so viele Wohnbauten der Rand- und Zwischenbereiche, ebenerdigen Häuschen, mit einem Riesenschlüsselbund hantierte, der in der fortgesetzten Stille unten klirrte wie im Wettstreit mit den Hubschraubern hoch in den Lüften. Dann fand er den richtigen Schlüssel nicht, und nicht. Das wäre noch eine bekannte Szene gewesen, aus einem Film von Charlie Chaplin oder Jacques Tati, zumal der Mann beim Versuch des Sortierens schwankte und hin und her und auf und nieder wippte als ein Sturzbetrunkener. Beim näheren Hinschauen aber war er nicht betrunken. Er schaffte es bloß nicht, in sein Haus zu kommen, nicht und nicht, warum auch immer. Selbst wenn er den Schlüssel fände, würde es ihm nicht gelingen, weder heute noch morgen. Und niemand sonst in dem Haus, der ihm hätte öffnen können, er wohnte darin allein – hatte bis zum jetzigen Moment darin gewohnt. Könnte er wenigstens zusammenbrechen, damit es mit dem Türaufsperrenwollen ein Ende hätte. Nur brach, und brach er, trotz all dem Taumeln und Baumeln, nicht und nicht zusammen, er mußte weiter vor der geschlossenen Tür mit den zweiundfünfzig Schlüsseln werkeln, werkeln bis zum Abend, werkeln in der Nacht. Zwischendurch fiel ihm ein gnädiges Einhalten zu, und er durfte sich für eine lange Sekunde mit der Stirn an die Tür lehnen. Danach: »Zurück zum Tun! Du mußt!«, und bevor er sich, mit seinem hängenden, baumelnden Kopf ans Sortieren und Hantieren machte, brach aus ihm ein Wimmern heraus, vonkeinem Menschen – von einem Tier – einem unbekannten. Oder er, der andere, glaubte es zu hören? Es war zu hören, so oder so. Ihm beispringen kam nicht in Frage. Der Ausgeschlossene wäre ihm mit dem Schlüsselbund in das Gesicht gefahren und wäre dann die Straße hinabgerannt auf der Suche nach welchen, die er töten könnte: wäre Amok gelaufen. (In der Slapstickversion der Geschichte, die er am Morgen gelesen hatte, genügten für einen Amoklauf, nach dem vergeblichen Einheimsenwollen der Zitronenkerne im Haus, auf der Straße ein Schuhband, dessen Knoten sich nicht lösen ließ, und ein Hustenbonboneinwickelpapier, an welchem der Held nicht und nicht die Stelle zum Aufwickeln fand.)
    Lange hatten sich alle die kleinen Häuser und ebensolchen Gärten des letzten der Grenzbezirke, der sich stadtein dehnte, menschenleer gezeigt, viele auch unbewohnt, und nicht bloß jetzt den Sommer über, jedes zweite mit einem Verkaufsschild. Es gab erst einmal die Versicherung, auf dem richtigen Weg zu sein, als dann zunehmend hinter den Hecken und zwischen den Häusern Stimmen und Geräusche laut wurden. Nur ging es da fast nie friedlich zu. Was vorherrschte, war Geschrei und Tumult, man brauchte gar nicht

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