Der Große Fall (German Edition)
sich führte und im Moment aushalf. Und als er zuletzt noch mit Nähnadel und Silber und Goldfäden, aus einem Etui in einer Innentasche seines Anzugs geangelt, sich über eins der Meßgewänder hermachte, wurde der Priesterzum Beruferater. Der andere war, trotz seines feinen Anzugs und der Krawatte, kein hoher Herr, überhaupt kein Herr. Schon seine Hände zeigten, daß er das Zugreifen gewohnt war; daß er von klein auf mitangepackt hatte. Aber vielleicht war er doch ein Herr, ein sehr hoher, ein verkleideter. Beim Betreten der Kirche, bevor er den schmalkrempigen Hut mit den zwei Falkenfedern abnahm, habe nämlich er, der Priester, einen König vor sich gesehen, einen der Ludwige, nein, nicht den Sonnenkönig, vielmehr den Ludwig einige Jahrhunderte davor, den, der als Kind schon zum König gekrönt wurde und auch als ernster König ein Leben lang ein Kind blieb, und später Ludwig der Heilige hieß, wegen der Kreuzzüge (auf einem davon starb er), oder trotz dieser Kreuzzüge, der, nicht bloß von heute her gesehen, eher kindischen, und in seinen, des Priesters Augen, also trotzdem ein Heiliger wie sonst nur der Franz von Assisi, und ein König Wunderheiler. Oder der andere da war ein Desperado, ein Gesetzloser. Er hatte etwas von einem Gewalttäter. Zwar hatte er bis jetzt niemanden getötet, aber er wirkte dazu imstande, würde eines Tages töten, vielleicht heute noch. Oder er war, und das schien dem Priester am ehesten zuzutreffen, überhaupt niemand, niemand Besonderer, eine Vogelscheuche auf dem freien Feld, die je nach Wind und Licht die Gestalten wechselt, sich zumRiesen aufbläht und gleich darauf zusammenfällt zu einem Häufchen Elend, eine Frau vortäuscht, ein Paar, eine ganze Sippe, und letztlich wieder niemand und nichts ist. So oder so aber war der andere einer aus einem dritten Land, und der sollte hier willkommen sein. Und der Priester nannte den Schauspieler dazu bei einem Namen: »Christoph – denn Sie tragen, du trägst das Gewicht der Welt! Wozu paßt, daß du einen Zug um den Mund hast wie einer, der die Bitternis getrunken hat fast bis zur Neige, und nicht einmal ungern.«
Danach das Gegen-Raten des anderen, mit Blick auf ein Gemälde an der Wand der Sakristei, das einen Mann an einem Stehpult zeigte, mit der rechten Hand schreibend und mit der Linken sich einen halb verdeckten Gegenstand an die Lippen pressend: Das sei doch die glühende Kohle, mit welcher sich der Prophet beim Aufschreiben seiner Visionen Zucht auferlege? Erraten, oder auch nicht: denn er, der Priester, sehe in dem Ding, von dem der Schreiber sich leiten lasse, statt jener glühenden Kohle eher eine Lehmkugel, oder noch eher einen frischen Schneeball, einen besonders eisigen, und der werde an die Lippen gepreßt, und in gleicher Weise preßten die Lippen des Schreibenden sich an ihn. – Zuletzt wieder der Priester: »Jetzt aber Spaß beiseite. Dubist weder ein König noch ein Desperado, Bruder Christoph. Du bist ein Schauspieler. Woran ich das erkannt habe? An deiner Unauffälligkeit, an deiner ›Unperson‹. Selbst allein auf weiter Flur wärst du zu übersehen. Und woran ich das weiter erkannt habe? An deiner Ernsthaftigkeit durch und durch, an deiner Gesammeltheit, innen und außen. Und woran ich das weiter erkannt habe? An deiner Geradheit, Unverstelltheit. An deiner Unbedingtheit. Und warum ich das erkannt habe? Weil ich, als Priester, selber so ein Schauspieler bin, es zu sein habe.«
Beschwingtes Weiterpilgern stadtein, und die Freude dabei war nicht wie so viele Freuden der letzten paar Jahre. »Sag, wie waren die denn?« (Er zu sich selber.) – »Erst einmal kamen sie spärlicher. Und dann waren sie schnell wieder vorbei, abrupt. Sie brachen ab, oder ich war es, der sie abbrach, die Freuden. Und das rührte daher, daß meine Freude, indem sie sich ausbreiten wollte über mich hinaus, in einem bestimmten Moment unweigerlich an das Unglück der anderen stieß, an mein Bewußtsein vom Unglück, vom Elend und von der Verlassenheit der anderen. Es nützte nichts, mit dem Zeitunglesen und Fernsehen aufzuhören. Es war nicht allein das Bewußtsein von den Opfern der Tsunamis, der Hungersnöte, der Kriege in den zweiten bis unendlichen Welten.Es genügte schon der Gedanke an meinen fernen Sohn und dessen Einsamkeit – wenn ich mir diese vielleicht auch bloß einbildete –, und ich fühlte mich mit meiner Freude im Unrecht. Und doch hatte ich gerade in der Freude am stärksten und schärfstumrissen die
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