Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
hinter den Horizont, verreist auf unbestimmte Zeit.
    Ein runder Platz, wie es sich für einen Hauptplatz gehörte (oder auch nicht). Tausende von Autos, eins dicht hinter und neben dem andern, umkreisten ihn, und es war, als ob auch die Myriaden der Fußgänger am Rand sich im Kreis bewegten. In der Mitte des Platzes ein Bildschirm groß wie für ein Stadion. Dort ein ständiger Wechsel von Werbebildern und Weltbildnachrichten. Umkurven des Platzes seinerseits zu Fuß, und in der Folge noch ein Umkreisen, und dann ein drittes Mal, so als gehörte das zu dem unausweichlichen Geradeaus. Der Bildschirm dabei vervielfacht in alle Globalrichtungen, ohne Ton, oder der Ton unhörbar im Abendverkehr.
    In den Weltnachrichten immer wieder, in Großaufnahme, nur ein Ansatz der Schultern zu sehen, in einem dunklen Anzug der Präsident, vor einer Bücherwand, in einer feierlichen Erklärung begriffen. Der Schauspieler hatte das Lippenlesen gelernt, und so konnte er sich die Rede des Präsidenten – dem er eigentlich gerade hätte gegenüberstehen sollen – zusammenbuchstabieren. Es handelte sich um eine Kriegserklärung, die sich nicht so nannte, sondern »Eingriff«, »Intervention«, »Gegenschlag«, »Reaktion«. Bürger des Landes waren, so verstand der Lippenleser, in einem anderen Land, im Mitwissen und, ohne jeden Zweifel, unter Mithilfe der dortigen Machthaber, getötet worden, und das konnte, bei Gott, dem Herrn der Schöpfung, nicht hingenommen werden. Und wörtlich sagte der Präsident zuletzt: »Es bleibt uns keine Wahl, als gegen die Feinde unserer Zivilisation und Religion zu intervenieren. Noch heute nacht werden die Operationen anlaufen, damit es nicht eines Tages in unseren Geschichtsbüchern heißt, unsere Landsleute hätten für nichts und für wieder nichts ihr Leben gelassen. Nein, unsere Bürger sollen, das ist mein heiliger Schwur, nicht umsonst gestorben sein! Die Geschichte verlangt ihr Recht und hat ihren gottgewollten Gang zu gehen. Gott helfe uns dabei! Unser Gott ist groß. Großer Gott, wir loben dich …«
    Das letzte kam gesungen. Zurückfahren der Kamera, Sicherheben des Präsidenten von seinem Bibliothekssessel in ganzer Größe, Verlassen des Raums der Interventionserklärung. Sein Schreiten mit vom Körper weggestreckten, kaum ausschwingenden Armen, das eines gelernten Staatsmannes, nicht bloß bei Staatsakten. Am Morgen Rennen, dann Schreiten, Schreiten, durch den Tag, durch die Nacht. Unwillkürliches Nachahmen solchen Schreitens durch den Schauspieler, bei seinem Umkreisen des Platzes, ansatzweise. Abbrechen. Stehenbleiben? Innehalten? Unmöglich. Immer weiter den Platz umkreisen. Mit Bestimmtheit gehen war etwas anderes. Um zu der zurückzufinden, hätte er entschieden langsamer werden müssen als die Mitpassanten. Wie eine Kraft zur Beschleunigung, gab es eine Kraft zur Verlangsamung. Die hatte er in dieser Stunde nicht mehr, und so bewegte er sich ebenso rasch wie die andern um ihn herum schulterrollend und mit Schritten, welche Tätigsein spielten, und das er, in Gedanken an den Präsidenten, und nicht nur den, »Aktivgehen« nannte. Einer aus der Menge, unsichtbar bleibend, schrie plötzlich los, auf die Bilderschleife mit dem Präsidenten gemünzt: »Seht ihr Idioten denn nicht, daß er kein Gesicht hat? Und auch keine Macht? Daß es keine Macht mehr gibt, nur noch den Mißbrauch? Und der da mißbraucht sie! Man schämt sich, am Leben zu sein. Man schämt sich, von dem da der Zeitgenosse zu sein.« Und ein anderer Unsichtbarer: »Ja, sind wir denn auf Erden alle nur noch Gerümpel?« Und dann noch ein dritter Unsichtbarer: »Wer hat wohl den Staatsmännergang erfunden, den heuchlerischesten aller Gänge, den Geschichtsfälschergang?«
    Auffällig, wie oft Einzelne einander in die falsche Richtung auswichen und mehr oder weniger zusammenstießen, und wie viele einander den Weg abschnitten. Und noch auffälliger mit dem fortgesetzten Im-Kreis-Gehen, daß er auf Schritt und Tritt den und jenen erkannte, oder zu erkennen glaubte. Oft war ihm das zugestoßen in den Zentren der Weltstädte, und das waren regelmäßig Leute von woanders, ganz woanders, und von früher, viel früher, aus einem anderen Leben, oft schon Gestorbene gewesen. Aber an jenem Abend begegnete er Leuten wieder vom selben Tag, vom selben Morgen, aus den Wäldern, aus den Rand- und Zwischenbezirken. Der Eifersüchtige, am Morgen eingedrungen ins Anwesen der Frau, ging friedlich eingehängt in eine andere Frau. Der

Weitere Kostenlose Bücher