Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
erwähnen, daß ebendieses Buch auf einem Flug von, sagenwir, Amsterdam nach Edinburgh, von mindestens jedem zweiten der Passagiere in der vollbesetzten Maschine auf den Knien gehalten wurde, mit ebender Leuchtschrift auf den Deckeln.
    Über dem Leser eins der metroüblichen gerahmten, kleinen, schwarzweißen Reklameplakate. Es warb für eine Abendschule und zeigte einen Lehrer beim Korrigieren von Heften, mit dem Text, er, der Lehrer, hätte sich etwas vorzuwerfen, würde er, trotz seiner Müdigkeit am Abend, seinem Schüler nicht weiterhelfen und statt dessen den Fernseher einschalten. Ein Werbetext, der, zusammen mit dem sanft-ernsten Antlitz des »Lehrers« – ein Antlitz auf einem Reklameplakat! –, den Schauspieler bewegte, und als darauf sein Blick durch den Waggon schweifte, erschienen ihm die Gesichter der Fahrgäste, auch die der Telefonierenden, insbesondere derer, die bloß so taten, als telefonierten sie, durchtränkt von einer nicht mehr zu steigernden Traurigkeit. Das schien nicht bloß so – so war es. Sie blieben im übrigen allesamt undurchdringlich und ließen nichts, aber auch gar nichts ahnen von ihrer Existenz, ihrer Vorgeschichte, ihrer Geschichte, ihrem Um und Auf. Zu erahnen an ihnen war einzig etwas wie ein Tötungswunsch, ein Kriegführenwollen. Nein, nicht zu erahnen: zu erschlüsseln, zu erwittern, zuriechen. Es stank im Waggon nach Gewalt, ein wahrer Pestgestank. Gleich würde einer von ihnen ein Messer oder sonst etwas ziehen und auf die übrigen losgehen. Er sah den auch schon, erkannte den, der still und hoch aufgerichtet dastand, an seinen starren Augen und, deutlicher noch, an seinen verspannten Wangen. Und indem er ihn auf sich übergehen ließ, merkte er, daß das da er selbst war, sein Spiegelbild in den schwarzen Waggonfenstern. Verwunderlich eigentlich, daß so wenige Amok liefen. Und wenn, jäher Gedanke, einer, der Amok lief, sich zugleich opfern, jemanden oder etwas retten wollte? Wäre so die Geschichte, der Film, doch darstellbar? Und die Untergrundgesichter zeigten sich dann von solcher Phantasie seltsam besänftigt. Man sah sie so mit anderen Augen. Jedes Gesicht wurde das eines Stars, vor allem jene mit geschlossenen Lidern: Da, Anna Magnani. Dort, Montgomery Clift. Alle die großen Filme der Längstvergangenheit kehrten zurück in diesen Gesichtern, auf diesen Lidbildschirmen.
    Er nahm den Hut ab, und es kam ihm vor, seine Haare seien an diesem einen Tag übermäßig lang geworden, wie auch – er senkte den Kopf – seine Fingernägel. Hatte nicht sein bisheriges Kopfsenken dem Mit-den-Füßen-die-Erde-Berühren jener Sagengestalt entsprochen, wodurch deren Kräfte,sogar Riesenkräfte zurückkehrten in den Momenten der Selbstaufgabe? (Name der Gestalt: glorreich vergessen.) Er hob auf der Stelle den Kopf, und sein Blick wanderte durch den Waggon und durch die schmalen Glastüren an dessen Ende in den anderen Waggon, wo die paar sichtbaren Passagiere sich verkleinert und wie in weiter Ferne zeigten, in dem abgeschwächten Licht Auswanderer, lagernd auf einem Schiff, in einer von dessen untersten Kabinen, und die nur noch ahnbaren Fahrgäste in dem Waggon dahinter, dem dritten, arme Seelen aus dem Limbus, der abgeschafften Vorhölle – deren Fahlheit freilich aufgehellt von einem Marilyn-Monroe-Blond –, während neben ihm eine junge Frau im ungleich Helleren sich den Lidstrich nachzog und ihre ebenso junge Nachbarin sich ebenso ausführlich die Lippen schminkte. Sie wiegten die Köpfe zu einer Musik, die, anders als bei den Mitpassagieren, nicht aus dem Stöpsel im Ohr kam. Zwei Jungfrauen, selbstbewußte, und wie! Ja, gab es das denn noch? Das gab es. Daneben in einem Körbchen ein Neugeborenes, das zu ihm heraufschaute und ihm bedeutete: »Vater, warum hast du mich verlassen?«
    Er stieg aus dem Untergrund hinauf in den Tag, an einem der vielen Plätze der Stadt, von denen jeder für sich einen Hauptplatz darstellte. Der Uhrzeit, derSommerzeit nach – er rechnete für sich weiter in der Normalzeit und zählte jeweils eine Stunde zurück –, war es Abend geworden, und andererseits dauerte der Tag an, wenn auch kein hellichter mehr, weil die Sonne, immer noch nicht untergegangen (wann würde sie endlich untergehen?), verdeckt wurde von westwärts sich hoch und höher, dunkel und dunkler türmenden Haufenwolken. Während seiner Metropassage war das Blau des Himmels gelöscht worden; ein kleines Blau war im Osten mehr zu ahnen als zu sehen, und dann zog es ab

Weitere Kostenlose Bücher