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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Und obwohl er es vermied, über die Schulter zu schauen, dachte er zurück an die dreidimensionalen grünblauen Zukunftsschemata, und stellte sich diese angesprüht vor mit den schwarzen Zackenblitzen und sah in einer langen Sekunde, wie das Sprühen umschlug in einen Amoklauf. Zur einen Seite die Malereien, versöhnlich. Zur andern die Graffiti: »Nicht versöhnt«. Und zugleich sah er die als Buchstaben aus einem Halbschlaf, als eine Spiegelschrift, eine unentzifferbare.
    Seit längerer Zeit war er nicht mehr in die Stadt, die innere, gekommen, und was hatte sich da doch verändert! Ein neuer Bürgermeister hatte nicht nur die Steine der Bastei freilegen lassen, sondern darüber hinaus die in den letzten ein, zwei Jahrhunderten zugemauerten und unterirdisch verlaufenden Zuflüsse in den großen Hauptfluß; und einige dieser Zuflüsse, eher breitere Bäche mit wenig Wasser, konnte man neben den Brücken oder Stegen in Furten überqueren, und, wenn man zu Fuß unterwegs war, auf beidseits der Furten ausgelegten Steinblöcken. Von den Ufern des Hauptflusses waren die Markenzeichen des früheren Bürgermeisters, die den Sommer über in Holzkisten aufgestellten Palmen und die von weißwoher dazutransportierten Sanddünen, entfernt worden, und der Fluß mäanderte wieder wie seit je in seinen Breitengraden von Ost nach West. Ebenso wurde an einer Uferstelle, wo die nächsten beiden Brücken zur Linken und zur Rechten den größten Abstand im ganzen Stadtbereich hatten, die geplante zusätzliche Brücke nicht gebaut, und dafür ein Personenfuhrverkehr eingerichtet, was aber keine Tradition wiederholte: an der Stelle hatte noch nie eine Fähre verkehrt. Die neu freigelegten Furten und die Fähre, eine noch nie und nirgends sonst so gebaute: der Schauspieler, querstadtein, er ging sie, er nahm sie, in Gedanken an einen Film, wo Spencer Tracyeinen Bürgermeister oder Mayor darstellte, von dem es etwa hieß: »Laßt die Welt statt von den Staatsmännern von den Bürgermeistern regieren!«
    Es war ihm dann, es sei schon »arg spät«. Dabei schien, zwar mit einem wieder veränderten Licht, die Sonne, kein Zeichen von Dämmerung, es war ja hoher Sommer, wenn auch von einem einzelnen trockenen Platanenblatt beim Dahinschlittern auf dem Asphalt ein vorherbstliches Sirren kam. So stieg er am Gegenufer, wo die inneren Bezirke sich fortsetzten, hinab zur Untergrundbahn. Eine Zeitlang fuhr er dort kreuz und quer. In den Metrozügen, wie übrigens in sämtlichen öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt, galt eine Verordnung des neuen Bürgermeisters, wonach, wer dort, wie hieß das einmal, ein Ferngespräch führen wollte, sich einen speziellen Helm überzustülpen hatte, welcher den Telefonierer unhörbar machte, mit dem Argument, es störe die öffentliche Ordnung und den sozialen Frieden ebenso wie das Verrichten der Notdurft vor aller Augen. Und demnach zeigten sich ihm, wieder etwas Neues, bei seiner ersten Zentrumswanderschaft seit Jahren, in dem Waggon entweder hier die Passagiere mit stumm hinter den Plexiglas-und-sonst-was-Helmen verzerrten Gesichtern, oder dort, eine Minderheit, die Helm- und ebenso Kopfhörerlosen.
    Keiner von denen sprach. Bei seiner letzten Fahrt durch die Innenstadt hatten noch viele der Fahrgäste gelesen, Bücher, meist dicke, in denen sie in der Regel schon weit gekommen waren, so als führen sie seit langem im Untergrund, mit nichts sonst beschäftigt als ihrem unentwegten Buchstabieren – ihre Lippen bewegten sich in einem fort –, Entziffern und Lesen. Diesmal sah er einen einzigen mit einem Buch in der Hand, und der saß hinten auf einem der Klappsitze in dem Waggon, wo das Licht so schwach war, daß man schon eine mächtige Sehnsucht oder Wißbegierde nötig hatte, sich da in ein Buch zu vertiefen. Was der Mensch im Fastdunklen, wie abgesondert von den andern, wohl las? Schon wie er, ein übergewichtiger Mann, der eigentlich zum Sitzen mindestens noch einen zweiten Klappsitz gebraucht hätte, das Buch aufgeschlagen hatte, mit einer Zartheit gemischt aus Scheu und Andacht. Meinen Schauspieler drängte es, Verfassernamen und Titel des Buches zu sehen, und er näherte sich, so unauffällig, wie nur er es konnte, dem Leser. Er hätte dem andern gar nicht so nah zu kommen brauchen, die Lettern auf dem Umschlag sprangen schon aus dem Abstand in die Augen, so riesenhaft waren sie und darüber hinaus phosphoreszierten sie, als Leuchtschrift. Wie hieß das Buch, und wer war der Autor? Genug, zu

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