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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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öffentlichen Toiletten. Diese wirkte von außen eher klein und weitete sich, nicht unähnlich dem Vorstadtkirchenschiff zuvor. Womöglich noch weiter wurde sie, sowie man die Tür hinter sich zugeschoben und versperrt hatte. Von der Kuppel strahlte ein gedämpftes Licht über die azurblauen Kacheln, mit denen der ganze Raum ausgelegt war, und wurde davon sanft reflektiert. Er hätte diese Kacheln legen können, mitsamt den Aussparungen für die Klosettmuscheln. Die feierliche Orgelmusik, die rundum schallte, war das stetige Wasserrauschen da. Es roch nicht nach öffentlicher Toilette oder nach sonstwas, auch der Urin roch nach nichts. Nichts als ein feiner Luftzug zu spüren allseits, wie auf der Kuppel einer weltfernen Anhöhe. Nachdem er sich ausführlich gewaschen und auch sonst gleichsam stadtreif gemacht hatte, blieb er in dem Raum, lange, lange. Zuerst schaltete er das Zeitlicht, sooft es ausging, wieder an. Dann blieb er im Dunkeln. Die Finsternis war eine vollkommene, keine Ritze irgendwo, durch die von draußen auch nur die Ahnung eines Schimmers kam. Auf ewig so in der Schwärze bleiben? In ihr verschwinden? Niemehr ans Licht zurück? Der Schauspieler stand reglos und lauschte. Im Rauschen des Wassers war von der Stadt nichts zu hören als die Feuerwehr- und Polizeisirenen, und selbst die nur so schwach, als stammten sie von einem anderen Stern und aus einer anderen Zeit. Und zugleich spürte er in all seinen Körperzellen, daß er in der Stadt war, und daß diese ihn, wie nur je ein Wesen, erwartete. Bedürfnis, sich umzuziehen für sie, für ihr Zentrum, wenigstens ein Kleidungsstück zu wenden. – Die hintere Krempe des Huts vorwärtsgedreht.
    Draußen dann wieder ein Lichtwechsel, noch nicht das Abendlicht, und trotzdem der Sonnenschein durchwirkt von einem Schleier der Düsternis. Kein dunkleres Licht als manchmal im Sommer, ein Sonnenfinsternislicht, ohne den Mond oder sonst etwas vor der Sonne. Langes Verharren auf dieser Orts- wie Zeitschwelle. Auf- und Abgehen da, wieder als Geometer. Dann auf der in die Zentren führenden Straße ein solch einheitliches Getöse, unterlegt mit dem Getöse der Parallelstraßen, daß da eine Art Unhörbarkeit herrschte; nichts Einzelnes mehr klar herauszuhören. Auffällig höchstens, wie die Jungen mit Stimmen von Alten, oder viel Älteren, sprachen.
    Es waren fast keine Älteren oder Alten unterwegs, auch das im Gegensatz zu den Rand- und Zwischenbezirken. Noch deutlicher wurde das auf den die Straße säumenden Schemaglanzbildern, welche für im Bau befindliche Wohnhochhäuser warben: schon jetzt wandelten darin, wie dreidimensional und lebensecht, die von nichts beschwerten künftigen Bewohner unter tausend beblümten Balkonen im Parkimmergrün, allein, zu Paaren, mit Kindern, und kein einziger der Projizierten war ein Älterer oder ein Greis, und schon gar nicht einer mit einem Stock; nicht einmal ein Mittelalter kam als Wohnungskäufer da in Betracht. Auf dem Gehsteig darunter dann doch eine lebende alte Frau, die zwischen mehreren Bushaltetafeln hin und her irrte, auf der Suche nach dem einen Bus zurück an ihre Peripherie oder über die hinaus: vergeblich, auch die jungen Polizisten, als Ortsunkundige, konnten ihr nicht helfen, hatten außerdem anderes zu tun, nämlich amtszuhandeln bei einer Ausweiskontrolle von ebenso Jungen wie sie, weswegen die Greisin höflich gebeten wurde, ein bißchen Abstand zu halten, damit sie, die Polizisten, freier agieren könnten. Hätte der Schauspieler am Ende der langen Straße zurückgeblickt, so wäre er der verwirrten Weißhaarigen gewahr geworden, wie sie weiterhin die Uniformierten umkreiste mit dem einzig klar Hörbaren in der ganzen Stadt: »Wobitte hält der Bus nach …?« Statt dessen wendete er im Geradeausgehen den Kopf nach links und nach rechts, wo die abzureißenden Gebäude einerseits bemalt, andrerseits übersprayt waren, die Malereien wie Nachahmungen des Gesprayten wirkten, nur in harmonischen Farben, harmonisch auch die dargestellten Gestalten, verständlich ebenso die Situationen, Szenen und die dazugehörigen Zeichen und Wörter, Sätze, Ausrufe, während die Spraymauern von Blitz- und Zackenformen und Ausrufen, sämtlich in Schwarz, wimmelten, die aber allesamt unverständlich blieben. Sicherlich besaßen auch sie einen Sinn, den Sgraffiti-Wissenschaftler längst entziffert hatten. Aber der Schauspieler wollte den um keinen Preis wissen, die mit Rufzeichen versehene Unverständlichkeit war ihm recht.

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