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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Waldmensch, vor Stunden nicht einmal fähig, auf allen vieren zu kriechen, scharwenzelte in einem bodenlangen Seidenmantel um den Platz, führte einen Pudel aus und stank, wenn überhaupt,nach dem aktuellen Hauptstadtparfüm, oder duftete danach eher der Pudel? Die mit Äxten, Lanzen und Weltkriegsbajonetten in den Gärten aufeinander losgegangen waren, marschierten als eine so vielköpfige wie einträchtige Truppe, ein paar mit den Armen um die Schultern des andern, und einer von denen, der Hauptschreier, hatte sich in eine Frau verwandelt, die auf ihren hohen Stöckeln die Hüften schwang und die Augen verdrehte.
    Der einzige von früher, den der Schauspieler kreuzte, war sein Vater. Er erkannte ihn, werweißwarum, an seinen weißen Haaren, obwohl er nicht der einzige Weißköpfige in der frühabendlichen Menge war. Und er bekam seinen Vater auch nicht zu Gesicht, sah allein den weißen Scheitel, und den nur für einen Augenblick, dem dann allerdings eine der langen Sekunden folgte. Er war schnittig unterwegs, der alte Mann, womöglich noch um eins schneller als die andern. Ein Tanzabend erwartete ihn, im Ballsaal eines Hotels, das früher ein Grand Hotel gewesen war. Von einem ehemaligen Handwerker hatte der Vater schon lange nichts mehr, in seinem hellen Sommeranzug und mit den Tangoschuhen, den spitzen, aus weichem Rindsleder, mit den Einsätzen von Wildleder dazwischen. Er war beim Coiffeur gewesen, wo er sich mit einem Hauch von Gel vor dem größtender Spiegel gekämmt hatte, und danach bei seiner Mani- und Pediküre von den Philippinen, welche, als er ihr den Geldschein wie gewohnt in den Ausschnitt steckte, das, christlich wie sie war, geschehen ließ. Im Ballsaal würde er mit einer jeden der alten Damen – es waren Monat für Monat weniger – tanzen, zuerst Tango, dann, wenn sie alle müde geworden wären, als Ausklang, Walzer, Walzer um Walzer, in einem Monat für Monat längeren Ausklingen. Und vor Mitternacht würde er allein über die Peripherie nachhause in sein kleines Einfamilienhaus fahren, niemand dort als er und der Kanarienvogel, und im Unterhemd aus dem Radio die letzten Weltnachrichten hören. Bei der Nachricht von seinem Tod war dem Sohn die Vorstellung vom Vater als einem gekommen, der sein Leben lang nichts als gearbeitet hatte, obwohl das weißgott nicht den Tatsachen entsprach. Seltsam wieder, daß er an Unbekannten, vor allem in der Menge, die Seinen sah, während die Seinen, sooft er sie vor sich gehabt hatte, ihm als besonders Fremde erschienen waren – er sie manchmal erst auf den zweiten Blick oder gar erst letzten erkannte. He Vater, alter Stenz!
    Auf den Riesenbildschirm wurden, zwischen der sich wiederholenden Kriegserklärung – oder was es war –, Reklamegesichter und -körper projiziert, wiein Übereinstimmung mit den Autokolonnen und den Abertausenden, die um den Platz kurvten. Ein Gegensatz jedoch, ein in die Augen springender, der zwischen den nackten überlebensgroßen Frauen auf den Werbe-Seiten oben und den vielen verschleierten Frauen unten in der Menge. »Vom andern das Gesicht nicht zu sehen, keinen Schimmer von Augen, und ebenso keinen Schimmer der Haare, den Schimmer nicht sehen zu dürfen, kann das gottgewollt sein? Nein, das ist nicht gottgewollt, denn was eine Ahnung vom Paradies gibt, das ist doch die Schönheit der Frauen, im Verein mit der Frische der Augen im Gebet! Und genauso gottungewollt ist es, diese Nackten zu projizieren, deren Gesichter, Münder, Augen und Haltungen das Paradies nicht bloß parodieren, vielmehr den Traum davon verfälschen, beleidigen und verächtlich machen. Ah, Bedürfnis nach einem Antlitz, fernweg von den Verschleierten hier und falsches Versprechenden dort, und nicht nur schwarzweiß auf einem kleinformatigen Plakat im Untergrund – in Farbe, jetzt, hier auf dem Platz! Gesicht des andern als Medizin.«
    Doch wie er auch schaute und schaute: er sah keines. (Oder lag das an seiner Art zu schauen?) Die Passantinnen an dem großen Platz spielten bloß, schön zu sein, und für ihn war das das Gegenteil von demSpiel, auf welches es ankam. Sie spielten ein Spiel, das nicht das ihre war. Und auch ihr Ernst war eine Maske. Und selbst von denen, die an ihrem Maskenspiel Spaß hatten, ging auf ihn über eine Ratlosigkeit. Überhaupt erschien als das Gemeinsame in der Menge, an den Frauen wie den Männern, eine große Ratlosigkeit. Die Lippen waren ihnen geschwollen vor Ratlosigkeit, und er stellte sich diese angeschwollenen Lippen

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