Der große Gatsby (German Edition)
»wollen sie eine Zeitlang irgendwo im Westen leben, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
»Es wäre diskreter, nach Europa zu gehen.«
»Oh, mögen Sie Europa?«, rief sie überrascht aus. »Ich war erst kürzlich in Monte Carlo.«
»Tatsächlich.«
»Letztes Jahr erst. Ich war mit einer Freundin zusammen drüben.«
»Längere Zeit?«
»Nein, wir sind bloß bis Monte Carlo gereist und wieder zurück. Über Marseilles. Wir hatten am Anfang über zwölfhundert Dollar dabei, aber die hat man uns gleich in den ersten zwei Tagen im Kasino abgeluchst. Wir hatten unsere liebe Not, nach Hause zu kommen, das kann ich Ihnen sagen. Gott, habe ich diese Stadt gehasst!«
Einen Augenblick lang leuchtete der Spätnachmittagshimmel wie der blaue Honig des Mittelmeers im Fenster – dann rief mich die schrille Stimme Mrs. McKees ins Zimmer zurück.
»Ich hätte auch beinahe eine Dummheit begangen«, erklärte sie energisch. »Ich hätte beinahe einen kleinen Jidden geheiratet, der seit Jahren hinter mir her war. Ich wusste, dass er unter mir stand. Alle haben mir immer wieder gesagt: ›Lucille, du heiratest weit unter deinem Stand.‹ Aber wenn ich Chester nicht begegnet wäre, hätte er mich gekriegt, so viel ist sicher!«
»Das mag ja sein«, sagte Myrtle Wilson und nickte. »Aber Sie haben ihn eben nicht geheiratet.«
»Das weiß ich.«
»Ich dagegen schon«, sagte Myrtle zweideutig. »Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und meiner Lage.«
»Warum hast du das eigentlich getan, Myrtle?«, fragte Catherine. »Niemand hat dich dazu gezwungen.«
Myrtle überlegte.
»Ich habe ihn geheiratet, weil ich dachte, er sei ein Gentleman«, sagte sie schließlich. »Ich dachte, er hätte eine gute Kinderstube gehabt, aber er war es nicht wert, mir den Staub von den Schuhen zu lecken.«
»Eine Zeitlang warst du ganz verrückt nach ihm«, sagte Catherine.
»Verrückt nach ihm!«, rief Myrtle entrüstet. »Wer hat behauptet, dass ich je verrückt nach ihm war? Ich war genauso wenig verrückt nach ihm wie nach diesem Mann dort!«
Sie zeigte plötzlich auf mich, und alle schauten mich vorwurfsvoll an. Ich versuchte ihnen mit meinem Gesichtsausdruck klarzumachen, dass ich keinerlei Rolle in Myrtles Vergangenheit spielte.
» Verrückt war ich nur, als ich ihn heiratete. Ich merkte sehr bald, dass das ein Fehler gewesen war. Er hatte sich den Anzug, den er bei unserer Hochzeit trug, von irgendwem geborgt, ohne es mir zu sagen, und eines Tages, als er nicht zu Hause war, kam dieser Mann zu uns und wollte ihn zurück.« Sie blickte in die Runde, um zu sehen, ob ihr auch alle zuhörten. »›Ach, ist das Ihr Anzug?‹, fragte ich. ›Das höre ich heute zum ersten Mal.‹ Aber ich gab ihn ihm, und danach legte ich mich ins Bett und heulte den ganzen Nachmittag wie ein Schlosshund.«
»Sie sollte wirklich sehen, dass sie von ihm wegkommt«, sagte Catherine zusammenfassend zu mir. »Sie leben jetzt seit elf Jahren über dieser Autowerkstatt. Und Tom ist ihr erster Liebhaber.«
Die Flasche Whiskey – eine zweite – erfreute sich inzwischen bei allen Anwesenden regen Zuspruchs, außer bei Catherine, der es »ohne etwas genauso wohl« war. Tom läutete nach dem Portier und ließ ihn ein paar hochgepriesene Sandwichs holen, die ein vollwertiges Abendessen darstellten. Ich wäre gern gegangen und durch das sanfte Dämmerlicht ostwärts zum Park gelaufen, aber jedes Mal, wenn ich aufbrechen wollte, wurde ich in irgendeine wilde, leidenschaftliche Diskussion verwickelt, die mich wie mit Stricken an meinen Stuhl gefesselt hielt. Und doch muss unsere Reihe gelber Fenster hoch über der Stadt für den, der unten auf den allmählich dunkler werdenden Straßen vorbeilief und zufällig den Blick nach oben wandte, ihren Teil zum Geheimnis des menschlichen Daseins beigetragen haben, und so wie er schaute auch ich hinauf und rätselte. Ich war drinnen und draußen, zugleich verzaubert und abgestoßen von der unerschöpflichen Vielfalt des Lebens.
Myrtle zog ihren Stuhl dicht an meinen heran, und ehe ich mich’s versah, verströmte ihr warmer Atem die Geschichte ihrer ersten Begegnung mit Tom über mir.
»Es war auf diesen kleinen Klappstühlen im Zug, auf denen man sich direkt gegenübersitzt und die immer bis zuletzt frei bleiben. Ich wollte nach New York, um meine Schwester zu besuchen und bei ihr zu übernachten. Er trug einen feinen Anzug und Lackschuhe, und ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, aber jedes Mal, wenn er mich
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