Der große Gatsby (German Edition)
anschaute, musste ich so tun, als sähe ich mir die Reklame über seinem Kopf an. Als wir in den Bahnhof einfuhren, stand er plötzlich neben mir, und seine weiße Hemdbrust presste sich an meinen Arm – worauf ich ihm sagte, ich müsse gleich einen Schutzmann rufen, aber er wusste, dass ich log. Als ich mit ihm ins Taxi stieg, war ich so aufgeregt, dass ich kaum wusste, ob es nicht die U-Bahn war. Ich dachte immer bloß: ›Du lebst nicht ewig, du lebst nicht ewig.‹«
Sie wandte sich Mrs. McKee zu, und der ganze Raum hallte von ihrem künstlichen Lachen wider.
»Meine Liebe«, rief sie, »ich schenke Ihnen dieses Kleid, sobald ich es überhabe. Ich muss mir morgen sowieso ein neues kaufen. Ich muss mir unbedingt eine Liste von all den Dingen machen, die ich brauche – eine Massage und eine Dauerwelle und ein Halsband für den Hund und so einen süßen Aschenbecher mit Sprungfeder und für Mutters Grab einen Kranz mit schwarzer Seidenschleife, der den ganzen Sommer lang hält. Ich muss unbedingt eine Liste schreiben, damit ich nicht vergesse, was ich alles zu tun habe.«
Es war neun Uhr – kaum einen Augenblick später schaute ich abermals auf die Uhr, und es war zehn. Mr. McKee, die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, war auf seinem Stuhl eingenickt; die Fotografie von einem Mann der Tat. Ich holte mein Taschentuch hervor und wischte ihm den Rest getrockneten Rasierschaums von der Wange, der mich den ganzen Nachmittag über gestört hatte.
Der kleine Hund hockte auf dem Tisch, schaute mit blinden Augen in den Rauch und knurrte von Zeit zu Zeit leise. Leute verschwanden, tauchten wieder auf, planten, noch irgendwohin zu gehen, verloren, suchten und fanden einander ein paar Schritte weiter wieder. Irgendwann gegen Mitternacht standen Tom Buchanan und Mrs. Wilson sich gegenüber und stritten laut und heftig darüber, ob Mrs. Wilson das Recht habe, Daisys Namen in den Mund zu nehmen.
»Daisy! Daisy! Daisy!«, schrie Mrs. Wilson. »Ich sag es, sooft ich will! Daisy! Dai–«
Tom Buchanan holte kurz und gezielt aus und brach ihr mit der flachen Hand die Nase.
Die Folge waren blutige Handtücher auf dem Boden des Bads und schimpfende Frauenstimmen und hoch über dem ganzen Durcheinander ein langes, gebrochenes Schmerzgeheul. Mr. McKee erwachte aus seinem Dämmerschlaf und steuerte benommen auf die Tür zu. Auf halbem Weg drehte er sich um und starrte auf die tumultartige Szene: seine Frau und Catherine, die schimpfend und Trost spendend mit verschiedenen Hilfsartikeln zwischen den sperrigen Möbeln hin und her stolperten, und die verzweifelte Gestalt auf dem Sofa, die in Strömen blutete und einen Town Tattle über den Polster-Szenen von Versailles auszubreiten versuchte. Dann drehte Mr. McKee sich um und ging zur Tür hinaus. Ich nahm meinen Hut vom Leuchter und folgte ihm.
»Kommen Sie mal zum Mittagessen in die Stadt«, schlug er vor, als wir im Fahrstuhl abwärts ächzten.
»Wohin?«
»Egal.«
»Nehmen Sie die Hände vom Schalter«, blaffte der Liftboy ihn an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Mr. McKee würdevoll. »Ich habe nicht gemerkt, dass ich ihn berührt habe.«
»Gut«, sagte ich. »Sehr gern.«
…Ich stand an seinem Bett, und er saß aufrecht, in Unterwäsche, in den Kissen und hielt eine große Fotomappe in den Händen.
»Die Schöne und das Biest… Einsamkeit… Old Grocery Horse… Brook’n Bridge…«
Dann lag ich halb schlafend unten in der kalten Halle der Pennsylvania Station, starrte auf die Morgenausgabe der Tribune und wartete auf den Vieruhrzug.
3
Die Sommernächte hindurch drang Musik aus dem Haus meines Nachbarn. In seinen blauen Gärten schwirrten Männer und junge Mädchen wie Falter zwischen dem Geflüster und dem Champagner und den Sternen umher. Am Nachmittag, bei Flut, sah ich zu, wie seine Gäste vom Sprungturm seines Floßes sprangen oder Sonnenbäder auf dem heißen Sand seines Strands nahmen, während seine beiden Motorboote das Wasser des Sunds aufschlitzten und Monoskifahrer durch die Gischtkaskaden zogen. An den Wochenenden verwandelte sich sein Rolls-Royce in einen Omnibus, der von neun Uhr morgens bis lange nach Mitternacht Leute aus der Stadt abholte und wieder zurückbeförderte, während sein Kombiwagen wie ein flinker gelber Käfer hin und her eilte, um alle Züge zu erreichen. Und montags machten sich acht Angestellte einschließlich eines Extragärtners den ganzen Tag mit Mops, Schrubbern, Hämmern und Gartenscheren zu schaffen, um die Spuren der
Weitere Kostenlose Bücher