Der große Gatsby (German Edition)
hatte.
Ich war ihm seitdem nie wieder begegnet. Ich habe keine Ahnung, woher er von der Beerdigung wusste, oder auch nur, wie er hieß. Der Regen strömte über seine dicken Brillengläser. Er nahm die Brille ab und wischte sie trocken, um zu sehen, wie die Schutzplane von Gatsbys Grab gerollt wurde.
Da versuchte ich, einen Moment lang Gatsbys zu gedenken, doch er war schon zu weit weg, und alles, was mir in den Sinn kam, war, dass Daisy weder eine Karte noch Blumen geschickt hatte. Undeutlich hörte ich jemanden »Selig sind die Toten, auf die der Regen fällt« murmeln, und der eulenäugige Mann sagte mit tapferer Stimme »Amen«.
Wir hasteten durch den Regen zu den Autos zurück. Beim Tor sprach Eulenauge mich an.
»Ich hab’s nicht geschafft, zum Haus zu kommen«, bemerkte er.
»Das hat auch sonst keiner geschafft.«
»Was sagen Sie da!« Er war bestürzt. »Ach, herrje! Aber sonst kamen sie doch immer zu Hunderten!«
Er nahm seine Brille ab und wischte sie erneut außen und innen trocken.
»Das arme Schwein«, sagte er.
Zu meinen lebhaftesten Erinnerungen gehört die alljährliche Heimkehr aus der prep school und später aus dem College zu Beginn der Weihnachtsferien. Wer noch weiter als bis nach Chicago fahren musste, fand sich an einem Dezemberabend um sechs in der alten, schummrigen Union Station ein, um ein paar Freunden aus Chicago, die ebenfalls schon in ausgelassener Ferienstimmung waren, noch schnell auf Wiedersehen zu sagen. Ich erinnere mich an die Pelzmäntel der Mädchen, die von einem Tee bei dieser oder jener Freundin kamen, und an das Geschnatter gefrorenen Atems und die winkenden Hände hoch über den Köpfen, wenn jemand alte Bekannte erspähte, und das Abgleichen von Einladungen: »Gehst du auch zu den Ordways?, den Herseys?, den Schultzes?«, und die länglichen grünen Fahrkarten in unseren behandschuhten Händen; und zuletzt an die schmuddelig gelben Waggons der Chicago, Milwaukee & St. Paul Railroad, die auf den Gleisen hinter den Schranken so fröhlich wirkten wie Weihnachten selbst.
Wenn wir dann in die winterliche Nacht hinausfuhren und der richtige Schnee, unser Schnee, sich zu beiden Seiten ausbreitete und in die Fenster blinzelte und die schummrigen Lichter der kleinen Bahnhöfe Wisconsins an uns vorbeizogen, frischte die Luft mit einem Mal scharf und heftig auf. Wir sogen sie, wenn wir nach dem Abendessen durch die kalten Abteilwagen zurückliefen, tief ein und waren uns unserer Zugehörigkeit zu diesem Land eine seltsame Stunde lang unaussprechlich bewusst, ehe wir wieder ganz und gar mit ihm verschmolzen.
Das ist mein Mittelwesten – nicht der Weizen oder die Prärien oder die verlorenen Schweden-Städte, sondern die fröhlichen heimkehrenden Züge meiner Jugend, die Straßenlaternen und Schlittenglöckchen in der frostigen Dunkelheit und die Stechpalmenkränze, deren Schatten die erleuchteten Fenster auf den Schnee werfen. Ich bin ein Teil davon – ein bisschen ernst wegen jener langen Winter und ein bisschen selbstgefällig, weil ich in einer Stadt, wo die Häuser bis heute über Jahrzehnte hinweg den Namen einer Familie tragen, in der Carraway-Villa aufgewachsen bin. Ich erkenne jetzt, dass dies letzten Endes eine Geschichte aus dem Westen ist – Tom und Gatsby, Daisy, Jordan und ich, wir stammten alle aus dem Westen, und vielleicht war uns allen der gleiche Mangel eigen, der uns für das Leben im Osten auf subtile Weise untauglich machte.
Selbst dann, wenn mir der Osten am aufregendsten erschien, wenn ich seine Überlegenheit gegenüber den gelangweilten, wuchernden, aufgequollenen Städten jenseits des Ohio mit ihrer ewigen inquisitorischen Neugier, die nur die Kinder und die ganz Alten verschonte, am deutlichsten spürte – mutete er mich immer irgendwie monströs an. Vor allem West Egg spielt in meinen wilderen Träumen noch heute eine Rolle. Ich sehe es als eine nächtliche Szene von El Greco vor mir: einhundert Häuser, herkömmlich und grotesk zugleich, ducken sich unter einem düsteren, tief hängenden Himmel und einem glanzlosen Mond. Im Vordergrund gehen vier Männer im Anzug mit einer Trage, auf der eine betrunkene Frau in weißem Abendkleid liegt, ernst den Bürgersteig entlang. An ihrer über den Rand der Trage herabhängenden Hand funkeln kalt die Brillanten. Gravitätisch steuern die Männer auf ein Haus zu – das falsche Haus. Aber niemand weiß, wie die Frau heißt, und niemanden kümmert es.
Genauso seelenlos kam mir der Osten nach Gatsbys
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