Der große Gatsby (German Edition)
rutschte ihm aus der zitternden Hand.
»Ich hab’s in Chicago in der Zeitung gelesen«, sagte er. »Es stand alles in der Zeitung. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht.«
»Ich wusste nicht, wie ich Sie erreichen sollte.«
Seine Augen schweiften, ohne etwas zu sehen, unaufhörlich durch das Zimmer.
»Der Mann war wahnsinnig«, sagte er. »Er muss wahnsinnig gewesen sein.«
»Möchten Sie nicht ein bisschen Kaffee trinken?«, drängte ich ihn.
»Ich möchte nichts. Es geht schon wieder, Mr.…«
»Carraway.«
»Gut, also, es geht schon wieder. Wo haben sie Jimmy denn hingebracht?«
Ich führte ihn ins Wohnzimmer, wo sein Sohn lag, und ließ ihn dort allein. Ein paar kleine Jungen waren die Treppe heraufgestiegen und schauten in die Eingangshalle; als ich ihnen sagte, wer gerade gekommen sei, gingen sie widerstrebend fort.
Nach einer kleinen Weile machte Mr. Gatz die Tür auf und trat heraus. Sein Mund war weit geöffnet, sein Gesicht leicht gerötet, und aus seinen Augen rannen einzelne saumselige Tränen. Er hatte ein Alter erreicht, in dem der Tod keine schreckliche Überraschung mehr ist, und als er sich jetzt zum ersten Mal umschaute und die hohe und prachtvolle Eingangshalle gewahrte, die in großzügige Räume überging, welche sich ihrerseits in weitere Zimmer auffächerten, da begann seine Trauer sich mit einer Art ehrfürchtigem Stolz zu mischen. Ich begleitete ihn in ein Schlafzimmer im ersten Stock; während er Jacke und Weste ablegte, versicherte ich ihm, dass man mit allen Vorkehrungen auf ihn gewartet habe.
»Ich wusste ja nicht, welche Wünsche Sie haben, Mr. Gatsby –«
»Mein Name ist Gatz.«
»…Mr. Gatz. Ich dachte mir, Sie würden den Leichnam vielleicht in den Westen überführen wollen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Jimmy gefiel es schon immer besser im Osten. Hier im Osten hat er Karriere gemacht. Waren Sie ein Freund von meinem Jungen, Mr.…?«
»Wir waren gute Freunde.«
»Er hatte eine große Zukunft vor sich, wissen Sie. Er war noch jung, aber er hatte ganz schön viel auf dem Kasten – hier.«
Er tippte sich vielsagend an den Kopf, und ich nickte.
»Hätt er noch weitergelebt, wär sicher noch ein großer Mann aus ihm geworden. Ein Mann wie James J. Hill. Hätte noch geholfen, das Land aufzubauen.«
»Das ist wahr«, sagte ich betreten.
Er zupfte unbeholfen an der bestickten Tagesdecke und versuchte sie vom Bett zu nehmen. Dann legte er sich steif darauf – und schlief auf der Stelle ein.
Am Abend rief ein offenkundig verängstigter Mann an und wollte wissen, wer ich sei, ehe er seinen Namen preisgab.
»Hier ist Mr. Carraway«, sagte ich.
»Oh…« Er klang erleichtert. »Hier ist Klipspringer.«
Auch ich war erleichtert, weil ich neue Hoffnung schöpfte, dass nun doch noch ein Freund an Gatsbys Grab erscheinen würde. Ich wollte nicht in der Zeitung inserieren und auf diese Weise lauter Schaulustige anlocken, deshalb hatte ich selbst ein paar Bekannte von ihm angerufen. Sie waren schwer ausfindig zu machen.
»Die Beerdigung ist morgen«, sagte ich. »Um drei Uhr nachmittags hier im Haus. Es wäre schön, wenn Sie jedem Bescheid geben könnten, der vielleicht gerne kommen würde.«
»Jaja, mach ich«, antwortete er hastig. »Ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass ich irgendwen sehe, aber wenn, dann sag ich’s weiter.«
Sein Ton machte mich misstrauisch.
»Sie selber kommen doch auf jeden Fall.«
»Na ja, ich werde es natürlich versuchen. Aber eigentlich rufe ich an, weil –«
»Moment«, unterbrach ich ihn. »Warum sagen Sie nicht klipp und klar, dass Sie kommen?«
»Na ja, also, wissen Sie – also die Sache ist die, ich bin hier bei ein paar Freunden in Greenwich, und sie gehen wohl davon aus, dass ich den morgigen Tag mit ihnen verbringe. Es ist ein Picknick oder so etwas geplant. Aber ich werde mein Möglichstes tun, hier wegzukommen.«
Ich stieß ein unbeherrschtes »Was!« aus, das er gehört haben musste, denn er fuhr etwas angespannt fort:
»Eigentlich rufe ich an, weil ich ein Paar Schuhe in Gatsbys Haus vergessen habe. Würde es wohl allzu große Umstände machen, wenn der Butler sie mir gelegentlich schicken ließe? Es sind Tennisschuhe, und ohne sie bin ich sozusagen aufgeschmissen, verstehen Sie. Meine Adresse ist: c/o B. F. –«
Den Rest des Namens hörte ich nicht, weil ich den Hörer auflegte.
Danach empfand ich um Gatsbys willen eine gewisse Scham – ein Herr, den ich anrief, ließ durchblicken, Gatsby habe bekommen,
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