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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Gespräch in Gang zu bringen, doch niemand antwortete ihm.
    Haid fuhr mit vom Sehen kranken Augen durch die Straßen mit den bunten Reklameschildern. Sie fuhren an einem blauen Haus vorbei, das mit Schmetterlingen und Blumen bemalt war. An anderen Häusern waren die Mauern und die Fensterscheiben bemalt. Carson saß stumm neben Mehring. Haid sah nur ihr langes Haar, das manchmal im Fahrtwind flatterte. Sie durchquerten Filmore und Haid bemerkte die Neger, die vor den abbruchreifen Häusern lungerten, von denen die Farbe abblätterte und deren Holz morschte. Die verfaulten Holztreppen zeigten ihr verfaultes Rosa und Blau und Braun, als seien sie von giftigen Schwämmen befallen. Negerkinder saßen auf einem Brett mit Rädern und fuhren den abfallenden Gehsteig hinunter. Vor einem tintengrünen Haus hockte ein alter Neger und las Zeitung. Sobald Haid zurückblickte, sah er den Verfall und den Schmutz. Die Ornamente und Giebel und Treppengeländer aus Holz waren am Abbröckeln und Zusammenstürzen. Haid wollte fotografieren, Mehring bat ihn jedoch, es nicht zu tun. Im gleichen Atemzug begann er wie zur Entschuldigung von einem Sozialprogramm zusprechen. Er sagte, daß in New York alles viel schlimmer sei. New York sei gefährlich. Haid war gleichgültig gegenüber dem, was er hörte. Er fürchtete sich nicht vor New York. Es kam ihm vor, als sei ganz Filmore aus morschem Holz. Vor einer Reifenhandlung befanden sich Stapel von schmutzigen, schwarzen, ausrangierten Reifen, und zwischen den Stapeln stand ein Neger in Jeans mit Glatze und einer Zigarette im Mundwinkel. Der Neger stand da wie ein Totenwächter, der das Absterben um sich mit Gelassenheit verfolgte. Mochte alles um ihn absterben, die Gummireifen um ihn bildeten einen Wall, durch den nichts zu ihm eindringen würde. Vielleicht bewahrte ihn auch sein Haß vor der Verzweiflung. Er würde als letzter durch eine tote, verfallene Stadt gehen, würde Wohnungen durchsuchen, in schmutziger Wäsche und ungenießbaren Nahrungsmitteln stöbern, die Zigarette im Mundwinkel, würde irgendwo eine Zeitlang auf dem Fußboden liegen, Whisky trinken und warten, bis am Morgen die Sonne aufging. Er würde mit einem Herzen voller Haß Filmore verlassen, bereit zum Mord und zum Laster, und niemand würde wissen, wer er war. Als letztes sah Haid, wie zwei dicke, junge Mädchen in offenen Mänteln und Strickwesten die Straße hinaufeilten, dann lag Filmore hinter ihm wie eine Filmkulisse.
     
     
30
     
     
    In einem Park hielt Mehring an, und Haid ging über die Wiese, auf der Menschen saßen und sich unterhielten. Mehring fotografierte aus dem Auto, als wollte er wieder rasch weiterfahren. Haid ging zu Fuß weiter. Er fühlte sich angenehm verloren in der großen Wiese, auf der leere Bänke standen. Die Luft war rein und süß. Alles blühte, aber er hörte keine Vögel. Er blieb stehen und wartete auf ein Vogelgeräusch, aber es blieb still, und da die Wiese so groß war, schienen die Menschen sich flüsternd zu unterhalten. Carson kam auf ihn zu. Haid fühlte nichts. Ein Bursche lag unter einem Baum und las ein Buch. Haid dachte an »Alice im Wunderland«: Plötzlich würde ein weißer Hase über die Wiese laufen und im Baum verschwinden. Schon als Kind hatte er immer darauf gewartet, mitten in der Wiese auf eine tote Katze zu stoßen oder daß die Vögel auf den Telegrafendrähten verschmorten. Einmal hatte er im Garten Stachelbeeren gegessen, als eine verstorbene Nachbarsfrau aus dem Haus getragen worden war. Im nächsten Moment hatte Haid sich vor den Stachelbeeren geekelt und vor seinen Händen, vor allen Früchten, die im Garten wuchsen und vor den Pflanzen im Nachbarsgarten. Auf dem breiten Asphaltweg, der auf die Mitte der Wiese führte, fuhr ein School-Bus vorbei. Aus den Fenstern blickten kleine, ruhige Kindergesichter. Haid ging wortlos zum Auto zurück und Carson folgte ihm. Er wollte nur den Tag hinter sich bringen.
    Obwohl er bewegungslos im Auto saß, war er voll von Unruhe. Vor einer Buddhafigur hielt Mehring wieder an. Haid blieb zunächst allein im Wagen sitzen. Er sah durch die blühenden Zweige einem Neger im braunen Overall zu, der Beton aufschüttete, um einen Weg zu machen. Später stieg er aus und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Park mit Bäumen, deren Äste vollständig beschnitten waren. Unter den Bäumen standen lange Reihen leerer Bänke. Haid fühlte Lust, sich auf eine der Bänke zu setzten und

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