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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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zusammenlegte. »Mein Bruder und ich, wir kamen 1950 herüber. Mein Bruder hat die Gemischtwarenhandlung gleich um die Ecke. Ich wollte mich soeben betrinken. Ich sagte mir, ich betrinke mich, wenn nicht in der nächsten Minute ein Mensch vorbeikommt. Gleich darauf sind Sie direkt vor meinem Fenster stehengeblieben. Ich sagte mir, wenn der Mensch in einer Minute weggeht, trinke ich trotzdem. Ich schaute auf die Uhr und nach einer halben Minute kam ich raus, um Sie zu fragen, was Sie wollen. Ich wollte Sie loswerden, verstehen Sie.« Er reichte Haid den zusammengefalteten Plan und ging, ohne sich umzusehen, in den Schuppen zurück.
    Eine Gruppe schreiender Kinder spielte weiter unten auf der Straße. Vor Christines Haus, das er jetzt von weitem sehen konnte, lud ein Altwarenhändler Möbel aus einem Auto auf die Straße.
 
 
18
     
     
    Haid war in sein Zimmer gegangen, die Hunde hatten ihn angekläfft, aber weder Jakubowski noch Christine hatten sich blicken lassen. Haid hatte daraufhin begonnen, das Haus zu durchsuchen. Er wußte nicht, warum er es tat. Er stöberte im Badezimmer herum. Die goldfarbenen Tapeten, die goldfarbenen Flaschen mit Badeessenzen, die goldfarbenen Metalljalousien, der goldfarbene Vorhang, alles wies auf den Luxus hin, mit dem sich Christine umgab. Haid stöberte im Abfallkorb, zwischen leeren Haarfestiger-Fläschchen, Wattestücken, Toilettepapier und ausgefallenen Haaren. Er bemerkte die Nelke an seinem Sakko, nahm sie heraus und warf sie in den Abfallkorb. Nein, es war sinnlos. Es war sinnlos, was er tat. Er ging zurück in sein Zimmer und wartete, bis es dunkel wurde.
     
     
19
     
     
    Lange starrte er im dämmrigen Licht seines Zimmers die hufenförmige Verzierung des Spiegels an, die aus braunem Holz geschnitzt war. Wie hatte sich Mehring verhalten, als er Carson tot aufgefunden hatte? War er zur Polizei gelaufen? Hatte er ihn verdächtigt? Suchte er ihn oder ließ er ihn suchen? Vielleicht war O’Maley ein Privatdetektiv, den Mehring auf seine Spur gehetzt hatte … Er verwarf den Gedanken wieder, stand auf und ging herum. Als es dunkel geworden war, verließ er das Zimmer. Zu seiner Überraschung saß Christine im Wohnzimmer. Sie bot ihm ein Glas Wein an, das er jedoch ablehnte. Haid setzte sich in einen der bequemen Sessel und schwieg. Auch Christine schwieg. Nach einer Weile setzte sich Christine neben ihn und stellte ihm Fragen. Haid dachte lange nach, bevor er antwortete. Er unterbrach sich mitten in einer der Antworten und sagte: »Ich habe das Bedürfnis, dir mit größter Ehrlichkeit zu begegnen. Ich versuchte, seit ich dich gestern wiedersah, mich darauf festzulegen, daß ich mich dir gegenüber mit größter Ehrlichkeit verhalten würde. Jetzt, plötzlich, während ich mit dir spreche, habe ich Angst, daß ich damit eine neue Pose für mich erfinde. Es ist ein Genuß zu spüren, wie man nur die Wahrheit spricht. Ich fühle, wie ich mich damit fortlaufend in Vorteil bringe. Es bedrückt mich keineswegs, daß ich mir einen Vorteil verschaffe. Wovor ich mich vielmehr in acht nehmen will, ist, daß ich einen Genuß empfinde, indem ich fortlaufend die Wahrheit sage.« – Er war nahe daran, Christine alles zu erzählen, aber er schwieg. »Vielleicht ist auch das, was ich dir soeben gesagt habe, nicht wahr, sondern eine Erfindung von mir. Ich sitze da und rede. Ich rede, und ich habe das Gefühl, es redet selbständig aus mir heraus.«
    »Dich bedrückt etwas«, sagte Christine. »Mich bedrückt etwas, das ist wahr«, antwortete Haid. »Ich kann es dir jedoch nicht erzählen, denn wenn ich es dir erzählte, würde ich dir fremd werden.«
    »Du glaubst also, daß du mir nur deshalb nicht fremd bist, weil ich dich nicht kenne.«
    »Ja.«
    »Dann glaubst du auch, daß sich die Menschen um so fremder werden, je besser sie sich kennen.«
    »Auf eine bestimmte Weise ist es so.«
    »Ich habe dich seltsam in Erinnerung, aber wenn ich dir zuhöre, dann bemerke ich, daß du noch seltsamer geworden bist, als du warst. Ich fürchte mich nicht vor dir, aber du hast etwas Unheimliches an dir, etwas, das mich verunsichert … Ich kann nicht sagen, was es ist: Ich freue mich auf dich, wenn du nicht da bist, aber es fällt mir schwer, mit dir zu sprechen, wenn du bei mir bist …«
    »Du machst dir falsche Vorstellungen von mir. Ich bin nichts Besonderes. Wahrscheinlich ist mehr Jämmerlichkeit in mir als in den anderen.«
    »Warum quälst du dich so? Irgend etwas quält dich.«
    »Ich kann es

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