Der grosse Horizont
U-Bahn hörte, sah er, wie ein Kind aus einem Automaten, der an einer blauen Stahlsäule befestigt war, ein Päckchen CANDY ROLLS holte und stellte gleichzeitig fest, daß anstelle der Untergrundbahn ein gelber Servicewagen die Station passierte.
22
In der Bleeckerstreet hielt Christine vor einer Auslage, in der geschlachtete junge Lämmer mit den Köpfen nach unten hingen. In der Mitte der Auslage war ein abgeschnittener Lammkopf postiert, dem man eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern aufgesetzt hatte. Vor den Geschäften stapelten sich Behälter mit Hummern, die zwischen Eisstücken vergraben waren, Körbe voll Muscheln, Kisten voll Obst. Als Haid aufblickte, war Christine verschwunden. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, konnte Christine aber nirgends entdecken. Zunächst nahm Haid an, daß sie ein Geschäft betreten hatte, er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Dann öffnete er die Glastür zur Lammfleischerei. Die Tür sprang mit einem lauten Glockenzeichen auf. Aber das Geschäft war leer. Ein schwarzhaariger Jüngling kam hinter einem Vorhang hervor und fragte ihn nach seinem Wunsch. Haid machte eine entschuldigende Handbewegung und schloß die Tür hinter sich. Er bemühte sich, durch die Auslagen in die Geschäfte zu sehen, aber die Spiegelungen auf dem Glas täuschten ihm einige Male vor, Christine gefunden zu haben, da er nur Teile der Personen sah. Er betrat einen Fischladen, gab vor, als interessierte er sich für die Ware und ging wieder zurück auf die Straße. Christine blieb verschwunden. Was war geschehen? – Die Erinnerung an den Schrecken am frühen Morgen in San Francisco, als er Carsons Schlafzimmer betreten und sie tot aufgefunden hatte, überwältigte ihn. Er wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. War Christine etwas zugestoßen? Erlaubte sie sich einen Scherz mit ihm? Oder hatte sie Wind von der Geschichte in San Francisco bekommen? Aber wie? Es konnte sein, daß O’Maley von Kapra die Adresse herausgekriegt und Christine angerufen hatte. Und warum ließ ihn Christine dann allein? Vielleicht hatte sie die Absicht gehabt, ihm zu erzählen, wovon sie Kenntnis erlangt hatte, und der Mut hatte sie verlassen. Das Entsetzen in ihm wuchs. Er durfte auf keinen Fall in Christines Haus zurückkehren. Er mußte zunächst versuchen, Christine zu finden. Vielleicht hielt sie sich irgendwo in der Nähe versteckt. Er spähte in Cafes durch die Scheiben, durch eine halbgeschlossene, knallblaue Tür, spähte in Juwelierläden und Altwarenhandlungen. Er wußte selbst, daß es sinnlos war, auf gut Glück nach Christine zu suchen, aber er brachte nicht die Kraft auf, NICHT in jedes Cafe und jedes Geschäft zu schauen. Er ging nochmals zur Lammfleischerei zurück, ohne eine Spur zu entdecken. Eine Zeitlang blieb er bewegungslos auf seinem Platz stehen. An der Kreuzung vor ihm humpelte ein schmutziger Weißer mit Krücken aufreizend langsam über die Straße. Christine hatte ihn verlassen. Jedenfalls steckte hinter ihrem Verschwinden Absicht, soviel war sicher, ansonsten würde sie ihn kaum ohne ein Wort stehengelassen haben. Es blieb nur der Schluß, daß O’Maley ihm nachforschte. – Zunächst mußte er sich darüber klarwerden, was er weiter zu tun beabsichtigte. O’Maley war vermutlich noch nicht in New York, sonst würde er bestimmt selbst gekommen sein. Das heißt, daß eine gewisse Chance bestand, zu Christines Haus zurückzukehren.
Er betrat einen Selbstbedienungsladen, bat telefonieren zu dürfen und wählte Christines Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich. Haid erschrak, da es nicht Christines Stimme war. »Mrs. Jakubowski ist nicht zu Hause«, sagte die Frauenstimme. Haid hängte auf. Sein Hals schmerzte, als sei er eine offene Wunde. Haid erbat vom Kassier zwei Aspirintabletten und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. Wenn Christine nicht zu Hause war, so hieß das, daß es günstig war, zurückzufahren und das Reisegepäck zu holen. Andererseits aber war es möglich, daß Christine inzwischen zurückkam. Für diesen Fall war es besser, wenn er wartete, bis es dunkel war und Christine allein zu Hause sein würde. Er war sicher, daß er sie würde überreden können, ihn gehen zu lassen.
23
Er trat auf die Straße hinaus. Ziellos spazierte er um ein paar Blocks. Er sah jetzt das Zimmer in San Francisco mit der toten Carson ganz deutlich vor sich. Es fiel ihm ein, daß er, als er Carson auf dem Bett gefunden hatte, zufällig ihr
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