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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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großen Bus mit dunkelblauen, hellblauen und silbernen Streifen in Deckung gehen, sah, daß er trotz seiner Angst das schwarzweiße Reklameschild auf dem Dach des Busses bemerkte, sah O’Maley an einem großen, schmiedeeisernen Feuermelder auf der anderen Straßenseite lehnen, eine Hand in die Brusttasche versenkt. Er sah sich hinter einem parkenden Personenwagen Deckung nehmen und O’Maley durch die Scheiben beobachten. Er sah ihn vor dem Wolkenkratzer mit dem reichverzierten, goldenen Portal lehnen. Dann sah er sich langsam, ganz langsam einen Revolver ziehen, sah die Waffe groß vor den Augen, dann sah er, wie O’Maley mit einem endlos langen Explosionsknall in die Luft gerissen wurde, mit mikroskopischer Genauigkeit sah er, wie Haare und Fleischstücke aus O’Maleys Kopf gerissen wurden, wie der Körper nach hinten zusammenklappte, als könnten die Gelenke jede Bewegung ausführen, sah Blutfetzen an die Mauer spritzen, sah O’Maley zu Boden fallen, nein schweben, dann sah er sich selber in Zeitlupe aufrichten (er sah jetzt aus wie Victor Mature), sah einen Neger mit schwarzem Hut und schwarzem Ledermantel erschrocken die Augen aufreißen, sah wieder seine Hand mit der Waffe wie eine Cinemascope-Projektion vor sich, hörte den Schuß, sah den Hut langsam durch die Luft fliegen, sah den Neger einknicken und mit dem Kopf voran auf den Asphalt stürzen, sah den Polizisten hinter der rotweißen Coca-Cola-Tafel in Deckung gehen, sah das Auseinanderstieben kreischender Menschen, fühlte die Kälte des Schattens der Wolkenkratzer an diesem sonnenhellen Tag, sah sich jetzt auf einmal so schnell laufen, daß alles um ihn nur die vielfarbige Spur von Licht wurde, wie wenn eine Kamera einem schnell jagenden Objekt folgt, sah jetzt seine Füße in Großaufnahme, sah den Polizisten aus einem Auto feuern, spürte, wie eine gewaltige Faust ihm die Luft aus der Brust schlug und wie er zu einem rohen, blutigen Stück Fleisch wurde, das in eine endlos tiefe Dunkelheit fiel.
     
     
14
     
     
    Er ging hinaus auf die zweiundvierzigste Straße und begann zu hinken. Er hinkte, um sich vor den Menschen zu schützen, vor den farbigen Polizisten mit Schlagstöcken in der Faust, vor dem weißen Polizisten, der mit abwesendem, arroganten Gesicht an einer Hausmauer lehnte, vor den verkommenen, abgerissenen, unrasierten, geisteskranken Individuen, den lebhaften Mäusegesichtern, dem Mann mit schwarzer Kappe, der sich von einem Automaten die Füße massieren ließ, vor dem feindseligen Gesicht, das vor einer Auslage stand, in der das Foto einer Frau mit riesigen nackten Brüsten für eine Sexshow warb. Er hinkte unter den Glasvordächern der Kinos, die noch nicht beleuchtet waren, und auf denen in großen Buchstaben der Name von Schauspielern und Regisseuren und die Titel von Filmen angezeigt wurden. Er stellte sich zur Tarnung in einer der Menschenschlangen an, die vor den Kassen der Kinos auf dem Gehsteig warteten, brach aus und hinkte wieder davon. Am Times Square bog er in die 7 th Avenue und suchte in der einundfünfzigsten Straße nach dem Hotel Abbey Victoria. Die Gehsteigkante vor dem Hotel war mit einem Messingbeschlag geschützt, damit sie nicht abgetreten werden konnte. Haid ging durchs Marmorportal und fragte in der Portiersloge nach Gertrud Frank. Der Portier blätterte im Hotelbuch, klappte es zu und sagte: »Gestern abgereist.«
     
     
15
     
     
    Haid beschloß, sich im Centralpark auf eine Bank zu setzen. Er war noch immer nicht in der Lage, klar darüber zu denken, was ihm in San Francisco widerfahren war. Und was sollte er tun? Gedankenverloren wandelte er dahin. Plötzlich, als er sich in der Avenue of the Americas befand, stürmte eine Inderin in europäischer Kleidung auf ihn zu. Sie hatte ein dickes, aufgeschwemmtes Gesicht und ihre Augen waren voll Fanatismus. In der Hand hielt sie einen Strauß kurzstieliger Nelken. Sie packte Haid beim Mantelkragen und stopfte eine der Nelken in Haids Knopfloch: »Es ist für indische Kinder!« rief sie, »am Abend ist eine Wohltätigkeits-Veranstaltung für indische Kinder.« Haid griff nach seinem Geld, währenddessen kam die Inderin so nah an seinen Körper heran, daß er befürchtete, sie könnte ihm das Geld entreißen. Er griff nach einem 5-Dollarschein und drückte ihn in ihre Hand. »Nein, Sie müssen mehr Geld geben! Ich habe gesehen, daß Sie mehr Geld haben!« – Sie klammerte sich an seinen Mantelkragen und schrie auf ihn ein, so daß sie sein Gesicht mit

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