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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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dir nicht sagen.«
    »Hängt es mit deiner Scheidung zusammen?« Natürlich hing es mit der Scheidung zusammen. Diese ganze verdammte Reise hing mit der Scheidung zusammen. »Was würdest du sagen, wenn ich einen Mord begangen hätte?« fragte Haid.
    Christine kam nahe an ihn heran, er roch ihr Parfum und ihr Haar, er sah ihre Augen vor sich und sie waren voll Zuneigung. »Ich würde es nicht glauben«, sagte sie.
     
     
20
     
     
    Haid betrachtete ihren nackten Körper, die kräftige Brust, die schlanken Hüften, die kleinen Zehen. Er sah ihrem nackten Fuß zu, wie er über den Teppich ging, dem Abrollen über die Ferse, dem Spiel der Zehen, wenn der Fuß vom Boden abhob.
    »Ich bin voll von Sehnsucht«, sagte Haid. Er setzte sich auf den Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. Auf dem Schreibtisch lag ein leuchtend gelber Papierbogen mit dünnen blauen Linien. Das Papier war eng beschrieben und Haid las: »Mir sind die langen Gespräche in der Dunkelheit des Schlafzimmers zuviel geworden. Ich habe Abscheu davor, mich jede Nacht neben dich zu legen und mit den Gesprächen, die sich immer um dasselbe drehen, fortzufahren.«
    »Lies das nicht.« Christine stellte sich neben ihn und nahm ihm das Blatt aus der Hand.
    Sie zog eine Lade auf, um das Papier hineinzulegen, und Haid sah eine Pistole in der Lade liegen. »Wem gehört diese Pistole?« fragte er. »Niemandem.«
    »Wieso liegt sie hier?«
    »Sie gehört zum Haus.«
    »Ist sie geladen?«
    »Ja.«
    »Ich habe immer die Vorstellung, daß ich mich eines Tages erschießen werde«, sagte Haid ruhig. »Meine Frau fragte mich, wenn ich über Selbstmord sprach, warum ich davon spreche. Auf einmal weiß ich, daß ich nur deshalb so oft davon spreche, weil ich mir die Angst nehmen muß. Ich spreche so lange darüber, bis ich mir die Angst davor genommen habe.«
    Er setzte fort, das Hemd zuzuknöpfen. »Ich fürchte mich nicht vor deinem Mann«, sagte er. »Oder vielleicht fürchte ich mich doch, ich weiß es nicht.« Er dachte an Carson und Mehring und sagte: »Ich habe mir bereits ein Hotel gesucht. Ich werde umziehen.« Christine schwieg, und Haid fühlte sich schuldig. »Ich habe dich sehr gerne«, sagte er unvermittelt.
     
     
21
     
     
    Christine hatte ihm auf seinen Wunsch ein Schlafmittel gegeben, und Haid erwachte erst zu Mittag. Seine Halsschmerzen hatten zugenommen, und er hatte im Badezimmer nach weiteren Medikamenten gestöbert. Er nahm zwei Aspirintabletten und ging benommen aus dem Haus. Christine begegnete ihm mit den Hunden auf der Haustreppe. »Warte auf mich, ich werde dich begleiten«, sagte sie. Sie sperrte die Hunde ins Haus und kam wieder die Treppen herunter. Es war ein sonniger Märztag, und gutgekleidete Negerjungen mit weißen Hemden und Krawatten spazierten über den Gehsteig. Ein altes, elegant gekleidetes Ehepaar stand vor einer schmutzigen, kleinen Kirche, deren Glasfenster zum Schutz gegen Steinwürfe von einem feinmaschigen, schwarzen Gitterwerk abgedeckt waren, wodurch die Kirche von weitem aussah, als hätte sie einen Feuerschaden erlitten. »Wie hast du geschlafen?«
    »Wir hatten Streit«, antwortete Christine. »Wir lagen im Dunkeln und warfen uns gegenseitig unsere Fehler vor. Ich bemerkte, daß ich Zusammenhänge erfand, die nie existierten. Ich schilderte irgendeine Szene und erfand etwas, das mich an ihm gestört hatte. Ich mußte mich gegen die Einfälle wehren, die mir kamen, wenn ich irgend etwas erzählte. Ich tat es nicht in der Absicht zu verletzen, sondern ich fühlte mich befreit, als ich Zusammenhänge erfand. Während ich sprach, spürte ich, daß ich mich ins Unrecht setzte, aber es befreite mich.«
    Ein weißgekachelter Gang führte zum Untergrundbahnschacht hinunter. Haid setzte sich auf eine abgeschabte Holzbank neben einen Juden, der einen schwarzen Hut auf dem Kopf trug.
    »Ich habe Halsschmerzen«, sagte Haid. »Du mußt zum Arzt gehen.«
    »Als du mir vorhin vom nächtlichen Gespräch erzähltest, wurde mir klar«, sagte Haid, »warum ich wehrlos gegen meine Frau war. Auch wir sprachen stets in der Nacht, bevor sie von mir wegzog. Ich glaube, sie beschuldigte mich zumeist nur mit erfundenen Dingen. Ich fühlte es damals, aber ich war mir nicht sicher. Es war nur eine Ahnung von mir. Ich zog die Möglichkeit gar nicht ernsthaft in Betracht.« Eine Untergrundbahn donnerte vorbei, deren Außenwände mit Wörtern und Buchstaben beschmiert waren. Haid stand auf. Als er wieder das Geräusch einer sich nähernden

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