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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Speicheltröpfchen benetzte. »Sie haben eine ganze Rolle Dollarnoten. Sie haben eine ganze Rolle Dollarnoten eingesteckt!« – Sie versuchte in seine Tasche zu greifen und ihm das Portemonnaie herauszuziehen. Haid faßte ihre Hand und wollte sie von sich wegdrehen, als die Inderin hysterisch aufkreischte. »Fassen Sie mich nicht an, Mann, fassen Sie mich nicht an. Sie haben mir fünf Dollar gegeben, deswegen haben Sie noch kein Recht, mich anzufassen! Ich schreie um Hilfe, wenn Sie mich nochmals anfassen, verstanden?«
    »Ich habe Sie nicht angefaßt.«
    »Fünf Dollar sind zuwenig fürs Anfassen. Fürs Anfassen nochmals fünf Dollar!« Haid durfte kein Risiko eingehen. Wenn die Polizei ihn wegen dieses Vorfalls festnahm, und er wegen Carson womöglich gesucht wurde, konnte er in größte Schwierigkeiten kommen. Er riß sich los, drehte sich um und ging rasch davon. Einige Schritte lang kam er sich verfolgt vor. Er begann zu laufen, lief am riesigen, schwarzen Wolkenkratzer der Banker’s Trust vorbei, vor dem zwei künstliche Wasserfälle ein monotones Geräusch erzeugten, dann plötzlich an abgerissenen Plakatwänden vorbei, mit Scherengittern verschlossenen Geschäften, entlang der Fahrbahn, die für eine kurze Strecke aus rohen Holzbrettern bestand, welche unter den Autos zitterten und hielt schließlich vor einem schwarzgestrichenen Schuhmacherladen. Er drehte sich um – niemand war ihm gefolgt. Jetzt erst bemerkte er, daß er außer Atem war. Er war verwirrt und gleichzeitig mit der nachlassenden Angst wurde in ihm ein Gefühl des Glücks wach.
     
16
     
     
    Vor dem Plaza-Hotel warteten rote, gelbe, braune und schwarze Kutschen auf Fahrgäste. Die Kutscher lungerten müde in ihren Uniformen herum, und Haid spürte, wie sehr er selbst offen war für alles Friedliche, und wie sehr er sich danach sehnte, dieses Gefühl des Friedens in sich zu verstärken. Am Parkrand waren zwei große aluminiumfarbene Behälter aufgestellt, wovon der eine mit der roten Ziffer Eins, der andere mit einer gelben Zwei bemalt war, und Haid versuchte einen Eingang zu finden, da er die Behälter für ein Pissoir hielt. Er ging einmal herum, ohne einen Eingang zu entdecken. Schließlich setzte er sich auf eine Bank, auf der bereits ein elegant gekleideter Mann mit grauem Hut, dunkelblauem Mantel und dunkler Hornbrille saß. Der Mann hatte ein Bein über das andere geschlagen, wodurch die Hose etwas hinaufgerutscht war und den Blick auf zwei magere Knöchel freigab, die von feinen seidigglänzenden Socken bedeckt waren. Der Mann bemerkte, daß Haid ihn musterte, stand sofort auf und ging davon. Das Mißtrauen mußte hier täglich Tausende kleine Mißverständnisse erzeugen. Haid selbst war in eine ununterbrochene Auseinandersetzung mit Panik und Angst verwickelt. Die Szene mit der Inderin zum Beispiel hatte ihn in Panik versetzt, eine verrückte Straßenszene konnte ihn so weit bringen, den Kopf zu verlieren. Er blickte dem Mann nach, der zwischen den laublosen, gelbgrünen Baumstämmen immer kleiner wurde. Er wäre ihm gerne nachgegangen und hätte ihn angesprochen, aber er wußte, daß er es nicht tun würde. Als er den Weg zurückging, sah er, daß das Plaza-Hotel sich in einem Wolkenkratzer aus Rauchglas spiegelte wie eine Fata Morgana. Eine Nonne in blauem Kleid kam ihm versunken entgegen, und Haid nahm – er wußte nicht warum – die Nelke aus dem Knopfloch seines Mantels, knöpfte ihn auf und steckte die Nelke in die äußere Brusttasche seines Sakkos, hierauf knöpfte er den Mantel wieder zu. Die 5 th Avenue war jetzt kalt und schattig. In der dunklen Kühle fühlte Haid körperlich, daß er auf der Flucht war. Er ging rascher, als folgte ihm tatsächlich jemand, und als er sich dessen bewußt wurde, daß er rascher ging, verlangsamte er seine Schritte wieder. Er kaufte sich in einem Papiergeschäft einen Stadtplan, den er – ohne ihn anzusehen – nach dem Kauf einsteckte. »Das Thema der Zeit ist Selbsterhaltung«, hatte Horkheimer festgestellt, »während es gar kein Selbst zu erhalten gibt.« Es kam ihm hochmütig vor zu behaupten, daß es kein Selbst zu erhalten gäbe. Allein das Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit schien ihm auszureichen, um von einem Selbst zu sprechen. Tolstoi hatte geschrieben, daß jeder Schmerz, jede Krankheit den Menschen ein wenig den Tod erfahren ließen. Man konnte die Sterblichkeit zwischendurch vergessen, aber man wurde immer wieder daran erinnert. War der riesige, blinde Bettler mitten

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