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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Haar berührt und dabei gedacht hatte, daß sie jetzt tot sei, wie ihre Haare tot waren. Und er dachte an Philipp Marlowe und er wunderte sich, daß er zu anderen Gedanken fähig war. Mußte er nicht alles dransetzen, einen Ausweg zu finden? Aber vielleicht handelte es sich nur um Zufälle. Vielleicht hatte er Christine nur zufällig aus den Augen verloren … Was auch die Ursache sein mochte, er mußte vorsichtig sein. »Ich muß vorsichtig sein«, dachte er. Er blickte auf und fand sich in der Bowery zwischen schmutzigen Häusern, alten Autoreifen, Flaschen und Glasscherben. Aber er ängstigte sich nicht vor der verwahrlosten Straße und den zerlumpten Menschen. Die Angst, die ihn mit Christines Verschwinden befallen hatte, und die Gedanken, die sich an Christines Verschwinden knüpften, hatten ihm die Angst vor dem, was er sah, genommen. Er empfand nichts, als er sah, wie zwei Neger auf einen Cadillac zugingen, der vor einer Ampel angehalten hatte. Im Cadillac saß ein elegant gekleideter Neger. Einer der beiden Neger, die auf den Cadillac zugegangen waren, klopfte an das Seitenfenster und rief dem Fahrer etwas zu. Der andere der beiden, ein magerer, großgewachsener Mann in einem abgeschabten, hellgrünen Stoffmantel trat mit einem Fuß gegen den hinteren Pneu. Haid ging ganz nahe an den Negern vorbei, es war ihm egal, was geschehen würde, er mußte einfach ganz nahe an ihnen vorbeigehen, aber die beiden kümmerten sich nicht um ihn. Sie wandten sich – nachdem der Cadillac davongefahren war – einer Gruppe herumstehender Weißer zu und begannen ein Gespräch.
    Ein paar Schritte weiter bog Haid in die Siebente Straße ab. Langsam versank er wieder in seine Erinnerung. Er dachte daran, Mehring anzurufen, und sah den Platz, an dem sich das Telefon in Mehrings Wohnung befand, vor sich und er fühlte den Schweiß in den Handflächen, wie er ihn gefühlt hatte, als er auf seiner Flucht das Taxi angerufen hatte, das ihn zum Manx-Hotel gebracht hatte. Er hob den Kopf, erkannte ein Haus, an dem er am Vorabend vorbeigekommen war, und war durch das unvermutete Wiedererkennen seltsam verwirrt. Es war ihm, als müßte er an das Wiedererkennen eine Bedeutung knüpfen, als drängte sich eine Erklärung dafür auf, warum er dieses Haus wiedererkannt hatte, eine Erklärung, die er nicht zu geben wußte. »Es ist, als ob alles bloß da wäre, um Erinnerungen in mir wachzurufen«, hatte Kierkegaard geschrieben. Der Satz war Haid eingefallen, und mit dem Satz war ihm seine Frau eingefallen, die ihm manchmal aus den TAGEBÜCHERN vorgelesen hatte. Christines Verschwinden hatte ihn so tief in einen Strudel von Erinnerungen, Ängsten und Hoffnungen geworfen, daß er seine Wahrnehmungen nur als zusammenhanglose Bruchstücke auf sein Gehirn prallen fühlte: In einem Park im italienischen Viertel schliefen Zerlumpte auf Bänken … frischgekämmte Kinder warteten vor einer Kirche auf den Pfarrer … gelbe Schilder mit schwarzen und roten Buchstaben, die über den Pizzerialäden hingen, trafen auf sein Gehirn wie Explosionen … Plötzlich befand er sich wieder in der Bleeckerstreet. Vor der Lammfleischerei bemerkte er eine Mülltonne und einen mit Abfall gefüllten, schwarzen Plastiksack, die ihm beide nicht aufgefallen waren, als er vor dem Geschäft auf Christine gewartet hatte. Der Anblick der Lammfleischerei, vor der eine Mülltonne und ein Plastiksack lagen, verunsicherte ihn so, als müßte er entscheiden, ob er, als er das erste Mal hier gestanden war, sich nur im TRAUM hier befunden hatte oder ob er jetzt träumte. Vielleicht würde Christine im nächsten Augenblick aus einem Geschäft kommen, und er hatte vom Zeitpunkt an, als er sich eingebildet hatte, Christine verloren zu haben, bis zu diesem Moment alles nur geträumt? – Er griff einen Hydranten an und es war ihm wie ein Trost, daß er die Kälte des Eisens spürte. Er schaute sinnlos durch eine Auslagenscheibe. Ein plumper, silbern und blauer Wagen mit der Aufschrift U.S.MAIL fuhr vorbei und spiegelte sich im Glas. Haid hörte den Motor und sah das Auto als Spiegelung in der Auslagenscheibe vorbeifahren, und obwohl es eine alltägliche Erfahrung war, schien sie ihm merkwürdig. Als er weiterging, entdeckte er neben der Lammfleischerei ein Schneidergeschäft, das er beim erstenmal ebenfalls nicht bemerkt hatte. Er fragte sich, warum ihm das so bedeutungsvoll schien, daß es ihm auffiel, und daß er darüber nachdachte. Natürlich gab es so etwas wie eine Wiederholung gar

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