Der grosse Horizont
Er überquerte wieder die Straße, ging die Treppen hinauf und öffnete die Tür. Erst als er die Tür geschlossen und einige Schritte in den Vorraum getan hatte, bellten die Hunde. Die Wohnzimmertür wurde geöffnet und Christines ängstliches Gesicht blickte ihn an. »Du bist es?«
»Ja«, antwortete Haid, »hast du jemand anderen erwartet?« Er blickte in das Wohnzimmer, aber es war niemand zu sehen. »Willst du nicht hereinkommen?« Haid trat ein und nahm in einem altmodischen Ohrensessel Platz. Warum hatte sie sich gewundert, daß er es war? Hatte sie nicht damit gerechnet, daß er noch kommen würde? Außerdem hatte sie seine Frage nicht beantwortet, ob sie jemand anderen erwartete. Er sah ihr zu, wie sie stumm ihm gegenüber Platz nahm. Ihr Gesicht war blaß. Wovor hatte sie Angst? Befand sich O’Maley bereits im Haus? Oder die Polizei? »Es tut mir leid, daß ich dir davongelaufen bin. Ich möchte es dir erklären. Bitte, versuche nicht, mich umzustimmen.« Was wollte sie? Zeit gewinnen? Und dann: Bitte, versuche nicht, mich umzustimmen … auch seine Frau hatte diese Redewendung gebraucht. »Ich verstehe schon«, sagte Haid. »Du brauchst es mir nicht zu sagen. Ich ziehe morgen in ein Hotel.«
»Du darfst das nicht mißverstehen, Daniel«, sagte sie, »ich freue mich, daß du nach New York gekommen bist. Aber, als wir durch die Bleeckerstreet gingen, hatte ich plötzlich Angst. Ich spürte auf einmal, daß ich mich verlor. Ich wollte dich nicht kränken, aber ich mußte einfach allein sein. Als ich mit dir in der Untergrundbahn fuhr, dachte ich an Pennsylvania. Ich habe früher mit Jerry in Pennsylvania gewohnt. Ich konnte einen ganzen Vormittag auf die Straße schauen, ohne Fußgänger zu sehen. Ich dachte, daß ich weg muß. Ich hielt es nicht mehr aus, und wir zogen hierher. Als ich gestern mit dir schlief, war mir plötzlich wieder zumute wie in Pennsylvania. Das hat mit Jerry nichts zu tun, verstehst du? Ich fühlte mich so allein, als ich mit dir zusammen war. Ich wollte es dir schon am Morgen sagen, aber ich brachte nicht den Mut auf. Ich erzählte dir von Jerry. Ich konnte über nichts anderes reden als über Dinge, die mich betrafen. Und ich konnte nicht lügen. Ich fühlte mich nicht imstande, über etwas Belangloses zu sprechen. Ich wollte dir alles sagen, und indem ich über mich selbst sprach, hoffte ich den Mut zu finden, über dich zu sprechen.«
»Das Gefühl, von dem du sprichst, empfinde ich schon seit langem«, antwortete Haid. »Ich lebe mit diesem Gefühl. Ich habe mich mit ihm liiert, wie man sich mit seinen Schwächen liiert. Ich verstehe, was du meinst. Aber ich war aus einem anderen Grund in großer Sorge. Ich kann dir die Geschichte nicht erzählen. Ist es nicht seltsam, daß man nicht den Mut aufbringt, etwas zu erzählen, das man erfahren hat? Vielleicht verschweigt man es aus der Befürchtung, daß es wirklich ist, während man noch die Hoffnung hat, alles sei nicht wahr. Und indem man es für sich behält, vermeint man, es sei so etwas wie ein Stück Traum.« Er dachte kurz nach. »Es hat sich niemand nach mir erkundigt?«
»Nein, wer sollte sich nach dir erkundigen?«
»Ich frage nur. Es hat auch niemand angerufen und nach mir gefragt?«
»Nein, warum fragst du mich?«
»Irgendwann einmal werde ich es dir erzählen«, sagte Haid. Er stand auf und ging in sein Zimmer. Er fühlte nur Müdigkeit und sein Hals schmerzte.
Nachdem er seinen Mantel und die Schuhe ausgezogen hatte, klopfte es an die Tür und Christine trat ein. »Wir sollen uns nicht so trennen«, sagte sie. »Nein, es ist besser so«, antwortete Haid, ohne sich umzudrehen.
26
Am nächsten Morgen stand er früh auf und packte die Koffer. Sein Hals schmerzte ihn. Er wusch sich nicht, sondern bemühte sich, lautlos die Haustreppe hinunterzusteigen. Zu seiner Überraschung stand Mr. Jakubowski vor der Treppe. Auch Jakubowski schien erstaunt zu sein, daß Haid ihm begegnete. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, sah Haid verwundert an, faßte sich jedoch schnell und fragte ihn, ob er abreise. Haid sagte, er wolle seine Gastfreundschaft nicht länger beanspruchen.
»Sie haben meine Gastfreundschaft nicht beansprucht«, unterbrach ihn Jakubowski. »Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Sie können mit mir zusammen frühstücken, Christine schläft wie immer um diese Zeit, und ich mache das Frühstück selbst.«
»Das ist sehr freundlich«, antwortete Haid, »aber ich habe eine Verabredung.«
Jakubowski
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