Der grosse Horizont
nicht. Hinter der Auslagenscheibe, auf die in weißen Buchstaben TAILOR geschrieben war, sah Haid eine Nähmaschine mit Trittbrett, alte Kleider und einen glatzköpfigen Mann, der eine Hose bügelte. Die Unsicherheit ergriff immer mehr Besitz von ihm. Sobald er den Eindruck hatte, daß ihm jemand folgte, verlangsamte er die Schritte, drehte den Kopf leicht zur Seite, ließ ihn vorbei und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Einige versoffene Gestalten kamen ihm entgegen, einer klein, im Mantel, schwankend vor einem Blumengeschäft, ein unrasierter Neger, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben, ein wohlsituierter Weißer im Kamelhaarmantel, den Hut und die Hornbrille wie ein Rangabzeichen am Kopf, glattrasiert und wohlduftend von Rasierwasser, mit dem Taxifahrer streitend. Ein Neger blickte im weißen Leibchen aus dem Fenster eines gelbbraunen Ziegelhauses. Der alltägliche Wahnsinn in den Straßen, die verrückt und krank dahineilenden Gestalten deprimierten ihn auf einmal. Aber er konnte keine Befriedigung daran finden, Schuldige auszumachen. Er war ja selbst schuldig, dieses Gefühl des Schuldigsein hatte er immer gefühlt. Die Christen nennen die Schuld, mit der die Menschen zur Welt kommen, Erbsünde, und sie taufen die Menschen, um sie von der Erbsünde zu reinigen, aber für Haid gab es keine Reinigung von den Schuldgefühlen. Diese Gesellschaft konnte ohne Schuldgefühle nicht aufrechterhalten werden. Sein Hals schmerzte, und er versuchte sich abzulenken. Er durfte noch nicht zurückgehen. Er mußte warten, bis es dunkel wurde, dann mußte er sich überlegen, wie er weiter vorgehen sollte.
24
Gerade war er an einem schmutzigen, pornographischen Geschäft vorbeigegangen, das im Schaufenster künstliche Glieder ausgestellt hatte, als einem Neger in Packpapier eingewickelte Pakete von einem Karren gefallen waren. Haid hatte bereits die Absicht gehabt, sich zu bücken und dem Neger beim Einsammeln der Pakete zu helfen, als er es plötzlich nicht mehr gewagt hatte.
Im nächsten Augenblick stellte sich bei ihm ein Krampf unter dem Zungenbein ein. Der Krampf war jählings gekommen und drückte sein Zungenbein wie eine Faust in den Hals. Er verspürte gleichzeitig seinen Körper auf eine so verrückte totale Weise, daß er feststellte, daß der Schuh ihn drückte. Vorsichtig bewegte Haid den Kehlkopf. Ihm war übel, und er hatte Angst, keine Luft zu kriegen. Der Krampf dauerte nicht lange, er ebbte bald wieder ab, aber er ließ in Haid das Gefühl zurück, krank zu sein. Er öffnete den Hemdkragen und versuchte, sich eine Erklärung zu geben, er wußte jedoch nicht, was der Krampf zu bedeuten hatte. In einer Verbindungsstraße zur 5 th Avenue fand er eine Bar und setzte sich auf einen freien Hocker. Zwei grauhaarige Barkeeper in weißen Hemden und Schürzen standen hinter der Theke. Haid bestellte eine Flasche Bier. Eine Nonne, die einen Porzellanteller in der Hand trug, bat ihn um eine Spende und später bemerkte er, daß der Aschenbecher vor ihm zu rutschen begann: Er glitt auf einer Alkoholpfütze langsam der gegenüberliegenden Thekenseite zu. Der Barkeeper mit der schwarzgerahmten Brille hob den Aschenbecher auf und wischte die Pfütze weg. Haid fühlte, daß der Krampf im Hals verschwunden war, aber die Schmerzen beim Schlucken hatten zugenommen.
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Ein Verrückter in einer Militärjacke regelte die Kreuzung vor der Bar. Er stand inmitten der Autos, schrie die Autofahrer durch die Windschutzscheibe an und forderte sie mit Gesten auf, weiterzufahren. Niemand griff ein. Die Autofahrer gehorchten mit unbewegten Gesichtern, und wenn Haid sich die Sache recht besah, so machte es der Verrückte nicht schlecht. Haid winkte einem Taxi. Der Fahrer ließ sich durch den Wechselgeldmechanismus den Zettel mit der Adresse geben und fragte ihn gleich darauf, ob er Deutscher sei. Haid konnte keinen Plan fassen, wie er sich Christine gegenüber verhalten sollte. Es war das beste, einfach das Haus zu betreten und abzuwarten. Vielleicht war O’Maley noch nicht in New York oder vielleicht hatte Christines Verschwinden nichts mit dem Vorfall in San Francisco zu tun? Er ließ das Taxi an der Ecke vor dem Haus anhalten, bezahlte und ging vorsichtig auf das Haus zu. Die Straße war leer. Vor dem Haus parkte kein Auto, aber das besagte nichts. Er wechselte die Straßenseite. Im Wohnzimmer brannte Licht, sonst war es überall dunkel. Auch in seinem Zimmer brannte kein Licht.
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