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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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blickte ihn mißtrauisch an. Dann zuckte er die Achseln. An seinem rechten Zeigefinger klebte ein weißer Zahnpastafleck. »In welches Hotel ziehen Sie?«
    »Fifth Avenue.«
    Jakubowski nickte. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie an.« Er sah Haid mißtrauisch zu, wie er die Koffer vom Boden aufhob und umständlich an ihm vorbeiging. Er überholte ihn, öffnete die Haustür und wartete, bis er die Treppen hinuntergegangen war. »Leben Sie wohl«, sagte er ohne sonderliche Anteilnahme.
     
     
27
     
     
    Die Koffergriffe schnitten ihm in die Hände. Er hielt nach einem Taxi Ausschau, fand eines und winkte es heran. Während er sich auf den Vordersitz setzte, sah er, wie der Chauffeur den Kofferraum mit einer Messerklinge öffnete, wie er die Koffer schwungvoll verstaute und die Klinge in das Messer einklappen ließ. Die Luft war von den Auspuffgasen und der Wärme glasig und sie bewegte sich wie eine durchsichtige Flüssigkeit und tauchte die Straßen in ein giftiges Licht. Das Taxi fuhr durch das Chinesenviertel, und die roten und schwarzen Schilder mit den chinesischen Schriftzeichen schienen ihm wie Signale aus einer anderen Wirklichkeit. Haid wurde wehmütig, wenn er an Christine dachte, aber er fühlte sich auch erleichtert, daß O’Maley nicht hinter dem plötzlichen Verschwinden Christines in der Bleeckerstreet steckte. Er blickte wieder hinaus, und die glasige Luft, die alles mit einer Traumschicht bedeckte, erinnerte ihn an Horkheimers SEHNSUCHT NACH DEM GANZ ANDEREN. Und er erinnerte sich auch daran, daß Horkheimer geschrieben hatte, daß ein ohnmächtiges und gequältes Leben, das voll von Güte war, vielleicht nicht verloren sei, daß es vielleicht einen ewigen Morgen habe. Er war nicht so vermessen zu glauben, daß dies für sein Leben zutreffen könnte, sein Leben war nicht voll Güte gewesen, aber es war ohnmächtig gewesen und gewiß auch gequält, aber das war nicht das Wesentliche. Das Wesentliche war der Gedanke an einen ewigen Morgen gewesen, der Gedanke, die Hoffnung, daß es überhaupt so etwas gab wie einen ewigen Morgen. Er spürte, wie leicht es für ihn im Augenblick war, in das Traumhafte umzukippen. Er trieb es nicht voran, aber er wehrte sich auch nicht dagegen. Er fuhr dasselbe Stück durch die Bowery, in dem er am Vortag die beiden Neger gesehen hatte, die sich an dem Cadillac zu schaffen gemacht hatten. Und da ihm jetzt alles auf eine friedliche Weise verändert schien, dachte er sich, daß ihm die Wirklichkeit vorkam wie eine Erinnerung. Nicht die Wirklichkeit allein schien ihm wirklich, sondern daß sie gleichzeitig ERINNERUNG GEWORDEN WAR.
    Vor dem Hotel Fifth Avenue öffnete der Taxifahrer den Kofferraum wieder mit der Messerklinge. Haid gab ihm zehn Dollar, und der Taxifahrer konnte nicht herausgeben. Sie standen vor dem gelben Taxi in der glasigen Luft und warteten. Der Taxifahrer suchte umständlich in seinen Taschen nach Wechselgeld und auf einmal fühlte Haid sich als Horkheimer, er glaubte, dessen Hornbrille in seinem Gesicht zu spüren, er glaubte, dessen jüdische Nase zu besitzen und eine Güte erfüllte ihn, der er sich gerne hingab. Er hob die Koffer auf, nickte dem Taxifahrer zu und betrat das Hotel.
     
     
28
     
     
    Haids Zimmer befand sich im elften Stock. Der Hausbursche, ein älterer Neger in Phantasieuniform, dem der Zentralschlüssel an einem großen Messingreifen um den Hals hing, hatte gefragt, nachdem er ihn an der Portiersloge hatte deutsch sprechen hören, ob er Max Frisch kenne. Max Frisch habe ein halbes Jahr in diesem Hotel gewohnt, sagte er stolz. Haid nickte. Der Neger trug die Koffer durch den Flur mit schwarzen Türstöcken und rotlackierten Türen, auf denen Messingnummern befestigt waren. Haids Hals schmerzte. Er fragte nach einem Drugstore, und der Hausbursche zeigte ihm einen, der sich gleich um die nächste Ecke befand.
     
29
     
     
    Der Verkäufer, ein mächtiger Mann, sprach einen breiten Akzent, war grauhaarig, trug eine ärmellose, schwarze Weste und hatte das Nylonhemd um die Oberarme mit Gummibändern abgebunden. Haid erklärte ihm umständlich seine Beschwerden, und der Verkäufer reichte ihm ein gelbes Pappschächtelchen mit Spezialtabletten. Haid fielen seine behaarten Finger auf. Die Geste, mit der er ihm die Tabletten reichte, hatte etwas Bestimmendes an sich. Haid ließ eine der Tabletten im Mund zergehen und fühlte langsam, wie sein Hals empfindungslos wurde, der Schmerz blieb jedoch auf eine dumpfe und klebrige Weise

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