Der grosse Horizont
war nichts zu sehen. Wenn Haid sich beeilte, würde O’Maley ihm kaum folgen können. Was sollte jedoch dann geschehen? Haid mußte in das Hotel zurück und das würde O’Maley Gelegenheit geben, ihn zu stellen. Er gab dem Taxifahrer, um ihn zu beruhigen, ein Zeichen und stieg aus. Während er ausstieg, wußte er jedoch, daß er sich damit in keiner Weise festlegte. Er konnte ohne weiteres wieder einsteigen oder auf der Straße warten, bis O’Maley zurückkam. Er spazierte auf den Gehsteig vor dem Flughafengebäude hinaus. Als er wieder zurückkehrte, verließ O’Maley gerade das Gebäude.
48
O’Maley öffnete die rückwärtige Autotür und ließ Haid einsteigen.
»Ich habe für morgen gebucht. Wissen Sie, ich wollte nicht in der Nacht fliegen.«
Er nahm neben Haid Platz und warf die Tür ins Schloß. Haid empfand das Geräusch der zufallenden Tür wie einen Schmerz.
»Wann werden Sie fliegen?«
»Morgen früh.«
»Wir nehmen auf der Rückfahrt einen anderen Weg«, sagte O’Maley, »ich möchte, daß Sie einen Blick auf die Friedhöfe werfen. Ein seltsamer Anblick, Haid.«
Haid fror. Er wagte es nicht einmal mehr, sich zu fragen, was O’Maley nun bezweckte. Wollte er ihn weichmachen? Wollte er auf Carson anspielen?
Kurz darauf fuhren sie durch das endlos lange Friedhofsgelände, das beiderseits der Straße lag. Es regnete leicht, und Haid wunderte sich darüber, daß ihn der Anblick der weiten, grünen Wiese, der viereckigen Grabsteine und der steinernen Engel ruhiger machte. Die Wolkenkratzer von Manhattan hinter den Hügeln sahen aus wie gigantische Grabsteine. Es war, als vergrößerte sich der Friedhof zum Horizont hin und als läge zwischen den Lebenden und Toten ein Niemandsland, in dem Haid sich jetzt befand. Er erinnerte sich an ein Bild von Caspar David Friedrich, das er vor Jahren in Hamburg gesehen hatte, und das er jetzt mit einer überraschenden Deutlichkeit vor sich sah, so als habe diese Erinnerung etwas ganz Bestimmtes zu bedeuten und als verpflichte sie ihn, hinter diese Bedeutung zu kommen. Das Bild stellte die Heimatstadt Friedrichs, GREIFSWALD, vor einem hellen, gelben Himmel dar, der durch ein Lichtphänomen seine besondere Farbe angenommen haben mußte. Während der Himmel die obere Hälfte des Bildes einnahm, war die Stadt selbst nur durch eine schmale Silhouette von grüngelben Kirchtürmen, Bäumen, Häusern und zwei Windmühlen dargestellt. Davor lag ein besonnter Rasenteppich mit springenden Pferden, Gänsen und einem Weiher, in dem sich der Himmel spiegelte. Alles wirkte trotz der idyllischen Atmosphäre, die das Bild ausstrahlte, realistisch, bis auf die dunkle Zone des Vordergrundes, die durch eine Bodenwelle und Sträucher vom Hintergrund abgesondert war. Dieser dunkle Streifen machte die Stadt, den besonnten Rasenteppich und den von einem Lichtphänomen erhellten Himmel zu einer Vision. Es schien, als sei dieser Streifen die Realität, das Diesseits, die Schwere, die selbst das Gewicht des Blutes in den Adern fühlbar machte, während dahinter etwas Paradiesisches oder das Paradies selbst sich auf tat. Haid war sich nicht sicher, ob dieses Paradies sich erst mit dem Tode aufmachen würde, es kam ihm vielmehr vor, als sei eine Kraft in ihm, die ihn dazu befähigte, aus dieser Schwere herauszutreten, in eine andere Form der Wirklichkeit. Als er das Bild zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sofort das Gefühl gehabt, daß er unmittelbar davorstünde, diese Grenze zu durchbrechen. Er stellte sich die Grenze nicht bildlich vor, aber er glaubte, sie als eine Mauer von harter Luft zu verspüren, die ihn von den Gegenständen und Menschen trennte. Er hatte später nicht mehr oft an dieses Bild gedacht, aber die Gedanken, die es ausgelöst hatte, waren geblieben. Was aber hatte es zu bedeuten, daß ihm gerade jetzt dieses Bild einfiel? Was bedeutete es für seine Zukunft, denn er war sicher, daß es ihm etwas sagte. Hatte er sich auf den Tod vorzubereiten? War es eine Täuschung gewesen, daß er geglaubt hatte, als Lebendiger in diese andere Form der Wirklichkeit eintreten zu können? Haid hatte nie an ein Jenseits geglaubt und doch erörterte er nun allen Ernstes die Frage nach einer Realität, die sich erst mit dem Tode auftun würde.
Sie waren längst wieder zum East River gelangt, aber Haid merkte nichts. Er dachte sich, daß man diese andere Form der Wirklichkeit, wie sie Caspar David Friedrich sogar hatte malen können, vielleicht sehen konnte, wenn man
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