Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
zusammenarbeiten, würde ihm Informationen geben, auf die Hammer angewiesen war, um sich in seinem Labyrinth aus Vermutungen, Ahnungen, Schlußfolgerungen, Erinnerungen und zufälligen Hinweisen zurechtzufinden. Haid benötigte nur eine Information, und um diese zu erhalten, brauchte er bloß Mehring anzurufen. Was ließ ihn zuwarten, was war die Ursache für jene Lähmung, die ihn daran hinderte, mit Mehring zu sprechen? – An der nächsten Kreuzung standen zwei Polizisten, lange Holzknüppel in der Hand – vor einer mit Scherengittern abgeschlossenen Imbißstube. Haid warf durch die Glasscheibe einen Blick in die Stube. Die Möbel standen funktionslos herum, als sei der Eigentümer gestorben, und niemand kümmerte sich mehr um das Geschäft. Im nächsten Augenblick schreckte ihn das Brausen einer vorbeirasenden Untergrundbahn, das durch ein Luftgitter unter seinen Füßen dröhnte.
     
     
45
     
     
    Kann man das Gehirn von Menschen reparieren, wie man kaputte Uhren repariert, fragte sich Haid, als er am Broadway einem Betrunkenen begegnete, der über eine Bierdose gestolpert war und nun seine sinnlose Wut an ihr ausließ, indem er mit den Füßen auf sie trat. Die Überzeugung, daß die menschliche Erkenntnis alle Fragen löste, ohne nicht gleichzeitig immer mehr Fragen aufzuwerfen, kam ihm als die neue Art von Metaphysik vor, an die es bequem war zu glauben. Aber wenn man Gehirne wirklich wie Uhren reparieren konnte, dann konnte man gewiß auch jegliche Art von Moral, Trieb und Verhaltensweise in sie einbauen und sich ihrer nach Wunsch bedienen. Man konnte die Menschen jeden Morgen in die Untergrundbahnen setzen, sie zu den Fließbändern führen, ihre Handgriffe, ihre Gedanken, ihre Zufriedenheit steuern, und sie würden sich in eine Ordnung einfügen, die ihnen vermutlich als das natürlichste scheinen würde, das es gab. Sie würden den Zustand, in dem sie sich befanden, als den ihnen angemessenen Zustand bezeichnen, und sie würden nicht zulassen, daß irgend jemand diesen Zustand störte. Haid schien es, als stünde die Menschheit vor der Wahl Anpassung oder Widerstand, und dieser Widerstand war oft nichts anderes als Irrsinn. Der Irrsinn, der einen Menschen zum Trinker werden ließ, der ihn verelenden ließ, der ihn dazu brachte, daß er sich fallen ließ – war er nicht der Wunsch nach Reduktion?
    Eine Art von seelischer Selbstverstümmelung, um eine Begründung zu haben, warum man nicht mehr weitermachte. Er war kein vollständiger Widerstand, denn man begründete auf eine stumme Weise sein Verhalten, um nicht zugrunde gehen zu müssen oder aus Angst vor dem Zugrundegehen. Haid kannte diese Angst vor dem Zugrundegehen. Sie war nichts Konkretes. Man konnte diese Art von Todesangst nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, sie war eine Bedrohung aus dem Nichts, aus dem Zukünftigen, einfach aus dem, was möglich war. Man konnte sich die Todesangst ausreden, sie vergessen, aber die Möglichkeiten würden sie immer wieder erzeugen und immer wieder aus neuen Anlässen und Zusammenhängen: In einem einsamen Hotelzimmer, im Wald, in einer riesigen Stadt, in einem dahinrasenden Auto. Der Betrunkene hatte mittlerweile von der Dose abgelassen und sich an einer Kinokasse angestellt und – als könnte er Haids Entschlüsse beeinflussen – ließ dieser sich dazu bringen, ebenfalls eine Karte zu kaufen. Haid interessierte sich jedoch kaum für das Geschehen auf der Leinwand. Das farbige, stinkende Publikum, die kreischenden Kinder und die schnatternden Weiber, die feindselig starrenden Neger und der riesige Farbige neben ihm, der ihn popcornkauend neugierig und ohne Scheu betrachtete, ängstigten ihn. Als Haid für wenige Minuten auf die Leinwand blickte, verwirrte ihn eine Befremdung, sobald er ein gelbes Taxi sah oder als er plötzlich das Lammgeschäft in der Bleeckerstreet erkannte oder einen bestimmten Drugstore in Greenwich Village. Es war eine Form von traumhafter Wirklichkeitsentdeckung, die ihm nicht mehr neu war. Der Neger neben ihm beugte sich zur Seite und sprach ihn an. Haid antwortete mitten in die Sätze hinein, daß er ihn nicht verstehe. Der Neger sprach ihn nochmals an, und Haid stand auf und ging hinaus. Nur für kurze Zeit hatte er nicht an O’Maley gedacht, aber O’Maley war trotzdem in Form einer unbestimmten Angst bei ihm gewesen. Ihm fiel jetzt auf, daß er immer weniger an Carson dachte und immer mehr an O’Maley. Er trat an den Rand der Fahrbahn und rief nach einem Taxi. Im

Weitere Kostenlose Bücher