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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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aufzufassen? Natürlich bestand die Möglichkeit, dahinter zu kommen, indem er O’Maley dieselbe Frage stellte. Aber O’Maley würde daraus schließen, daß er Angst hatte. Er sagte daher, daß ihn das Bild des UNSCHULDIGEN beim Polizeiverhör am meisten beeindruckt habe.
    »Ach, Sie meinen den Kerl, der sein Gesicht hinter den Händen versteckt hielt?«
    »Ja, den.«
    »Das war kein Unschuldiger. Im Gegenteil, glauben Sie mir. Wie kommen Sie darauf?«
    »Das war nur ein Gedanke von mir«, antwortete Haid. Er blieb einen Schritt zurück, um das Gespräch nicht mehr fortsetzen zu müssen.
    Die Frauen auf der Straße trugen durchsichtige Plastikregenschirme in Quallenform, und er stellte sich vor, Quallen hätten sich über die Köpfe der Frauen gestülpt und schwebten jetzt mit ihrer Beute über den Gehsteig. Dann war ihm, als säße O’Maley wie eine durchsichtige Qualle auf seinem Kopf und saugte ihn langsam aus. Er mußte ihn loswerden. Diesmal war er fester entschlossen als je zuvor. Natürlich war es sinnlos, einfach davonzulaufen oder zu versuchen, O’Maley im Gedränge zu verlieren. Es mußte endgültig sein. Entweder mußte er Gewißheit haben, was in San Francisco tatsächlich geschehen war, oder er mußte O’Maley entkommen. Haid drehte sich einer Auslage zu, in der prachtvolle violette, purpurfarbene und gelbe Schmetterlinge ausgestellt waren, ein grüner Mondspinner, der die Form eines frischen Blattes hatte, ein dunkelblauer amerikanischer Schwalbenschwanz, mit weißen Sprenkeln und den roten Höfen um die schwarzen Augen am Ende des Körpers und Morphofalter, deren Flügel eine Spannweite bis zu 20 cm hatten. Sie waren in durchsichtigen Plastikschachteln verpackt, und obwohl ihr Anblick ihn faszinierte, machte es ihn traurig, daß sie tot waren. O’Maley stand einige Schritte vor ihm und stupste mit dem Finger an das Glas eines Schaufensters, das kleine junge Hunde von den Passanten trennte. Die Hunde waren herangekommen und preßten ihre Nasen an die Glasscheibe. »Ich habe eine gute Hand für alles Lebendige, und ich hasse alles, was gegen das Leben gerichtet ist«, sagte O’Maley. »Zum Beispiel kann ich den Schmetterlingen da drüben nichts abgewinnen, weil sie tot sind.«
    »Gehen Sie mit nach Harlem?«, fragte Haid in diesem Augenblick. Der Einfall war ihm ganz plötzlich gekommen. Er war ihm so überraschend gekommen, daß er nicht wußte, ob er ihm nicht überhaupt erst beim Sprechen gekommen war. Er mußte O’Maley dazu bringen, mit ihm nach Harlem zu gehen. Vielleicht stieß ihm dort etwas zu oder vielleicht würde er abreisen.
    »Nach Harlem?« O’Maley schaute ihn mißtrauisch an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.«
    »Doch.«
    Haid war bereits gefangen von seinem Gedanken, mit O’Maley nach Harlem zu gehen und ihn dort der Gefahr auszusetzen. Er wußte nicht genau, was er tat, denn seine eigene Bereitschaft, mitzugehen, erschien ihm wie eine Entschuldigung. Was er sich aber nicht eingestand, war, daß er selbst keine Angst mehr hatte. Er kam sich seltsam immun vor. Er dachte sich, daß ihm nichts passieren könne, und im Innersten war es ihm egal geworden, ob ihm etwas passierte. Er machte sich keine Sorgen um sich. Nur die Sache mit Carson mußte er noch ins reine bringen, in die er, wie es ihm schien, schon so verwickelt war, daß er keinen anderen Ausweg wußte. Seine Füße schmerzten, und O’Maley nahm den Umstand, daß es stärker zu regnen begann, zum Anlaß, die nächste Bar zu betreten. Auf der Theke standen Trinkgläser, gefüllt mit Oliven, Kirschen, Cocktailzwiebeln, Stücken von Zitronen mit grünen Schalen und gelben Grapefruitscheibchen. Haid stürzte ein Glas Gin hinunter und hoffte, bald betrunken zu sein.
     
     
51
     
     
    Es war schon dunkel, als sie ein Taxi anhielten. O’Maley hatte kein einziges Mal versucht, ihn von seiner Idee abzubringen. Aber er war schweigsam und zurückhaltend gewesen, als habe er die ganze Zeit über etwas nachgedacht. Haid hingegen hatte unbeherrscht getrunken, und er spürte, als er schwankend auf der Straße stand, wie mühsam es für ihn war, das Gleichgewicht zu halten. Wenn er sich recht erinnerte, hatte auch O’Maley viel getrunken, aber er konnte ihm nichts anmerken.
     
     
52
     
     
    Vor dem Apollotheater in der hundertfünfundzwanzigsten Straße tappte Haid auf den schmutzigen Asphalt, der von Papierfetzen übersät war. Ihm fiel ein, daß er in Santa Monica darüber nachgedacht hatte, daß Angst stank. O’Maley hatte

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