Der grosse Johnson_ Die Enzyklopadie der Weine, Weinbaugebiete
Erzeugnis hingegen entweder für sich allein oder im Vergleich zu anderen und haben daher einen anderen und wohl auch klareren Ausgangspunkt. Am klarsten ist er, wenn man Hunger hat und nicht müde ist; der späte Vormittag ist deshalb der bevorzugte Zeitpunkt für eine professionelle Weinprobe.
Die idealen Bedingungen für eine Verkostung sind relativ nüchtern: ein sauberer, gut beleuchteter Raum ohne jede Atmosphäre, ohne den durchdringenden Geruch nach Fässern, ohne Ablenkung durch nettes Geplauder und vor allem ohne die Käsewürfel, die gegrillten Würstchen und das ofenfrische Brot, mit denen seit Menschengedenken die meisten zweitklassigen Weine ihren Abnehmern schmackhaft gemacht werden.
Ob es besser ist zu wissen, was man probiert, oder blind zu verkosten und erst hinterher zu erfahren, womit man es zu tun hatte, ist ein ewiges Streitthema. Die Macht der Suggestion ist gewaltig. Es ist schwer, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, wenn man das Etikett gesehen hat. Häufig werden die Eindrücke, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, von dem geprägt, was man erwartet, anstatt von dem, was man wirklich wahrnimmt.
Wenn ich die Wahl habe, verkoste ich am liebsten alles zuerst blind. Es ist die sicherste Methode, das höchste Maß an Konzentration aufzubieten und sich dazu zu zwingen, die richtigen Fragen zu stellen, analytisch und unvoreingenommen an die Sache heranzugehen. Ich notiere mir meinen Eindruck und frage dann, was es für ein Wein war, oder schaue aufs Etikett. Wenn ich richtig gelegen habe, freue ich mich: Ich weiß, dass die Vorstellung, die ich mir von dem Inhalt gemacht habe (oder die Erinnerung, wenn ich ihn schon einmal gekostet habe), der Wirklichkeit sehr nahe kam. Wenn ich (was sehr viel häufiger der Fall ist) falsch lag oder überhaupt keine Ahnung hatte, ist das meine Chance, den Wein kennenzulernen, ihn erneut aufmerksam zu verkosten und zu verstehen versuchen, warum diese Rebsorte in diesem Weinberg in diesem Jahr dieses Ergebnis geliefert hat. Dies ist der richtige Zeitpunkt, um sich mit anderen Verkostern auszutauschen.
Es ist immer interessant zu sehen, wie viel Übereinstimmung zwischen mehreren Leuten herrscht, die das gleiche Gewächs probieren. Geruchs- und Geschmacksempfindungen sind in so geringem Umfang messbar und nicht im Geringsten reproduzierbar. Die Sprache dient eher als Krücke denn als Stütze und zieht für fast alles, was an Erhellendem gesagt werden kann, Vergleiche und Metaphern heran.
Bei Wettbewerben, bei denen die Teilnehmer gegeneinander antreten, muss zwangsweise blind verkostet werden: Sieger ist die Person oder das Team mit der größten Erfahrung und dem besten Geschmacksgedächtnis. Bei Wettbewerben, bei denen Weine gegeneinander antreten, ist es das einzige faire Verfahren. Dennoch kann es auch dabei zu irreführenden Ergebnissen kommen, weil die unmittelbare Wirkung stärker berücksichtigt wird als weniger auffällige, aber letztendlich wichtigere Eigenschaften: Wenn kalifornischer Cabernet mit rotem Bordeaux ähnlichen Alters verglichen wird, tragen die Kalifornier fast immer den Sieg davon. Sie sind wie Tennisspieler, die durch ihren unerhörten Aufschlag gewinnen.
Der Vorgang des Verkostens
Viele Experten haben sich schon über das Wesen der Verkostung Gedanken gemacht. Für mich gibt es fünf Aspekte, die Aufschluss über einen Wein geben und die mir helfen, seine Qualität zu bewerten: sein Ursprung, sein Alter, die beteiligten Rebsorten sowie seine voraussichtliche Haltbarkeit (und ob er noch besser wird). In ihnen äußert sich gewissermaßen die ganze Fülle eines Weins, mit Ausnahme vielleicht seiner berauschenden Wirkung. Es sind – in der Reihenfolge ihres Auftretens – das Aussehen, der Geruch, der erste Eindruck im Mund, der Geschmack, während man den Wein im Mund hat, und der Nachgeschmack. Ich berücksichtige jeden einzelnen dieser Aspekte, notiere mir zu jedem etwas (die Notiz dient nicht nur als Gedächtnisstütze, sondern zwingt einen auch dazu, sich auf einen Eindruck festzulegen) und ziehe dann einen allgemeinen Schluss.
Das Verkosten ist eine anspruchsvolle Tätigkeit und etwas ganz anderes, als wenn man einen Wein einfach nur trinkt. Manchmal beschränkt sie sich auf eine kurze, private Zeremonie, zum Beispiel auf einer Party, wo das Getränk nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses steht. Trotzdem kann man Wein eigentlich nur angemessen genießen, wenn man diesen Anspruch zur Gewohnheit macht und mit
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