Der große Stier
Arme über den Kopf, die Hände zu Fäusten geballt.
Magdelaine gab ein Zeichen, daß Ruhe herrschen solle. »Paul Odeon möchte sprechen. Macht euch bereit, ihn zu hören …«
»Vielen Dank, Frau Vorsitzende!« Seine Stimme überschlug sich, als er ihr das zurief, und er wartete, um seinen Ärger zu bewältigen. »Als ich heute nachmittag zu diesem gepriesenen Kinderteich kam, habe ich mich gewundert, wo all die Dämpfe, all die Dünste geblieben sind. Jetzt weiß ich es. Sie sind in euren Köpfen!«
Er streckte seine gekreuzten Handgelenke vor sich aus. »Seht ihr dieses Zeichen? Es war einmal das Symbol der Freude. Es war einmal der Ausdruck der Freiheit. Jetzt ist es einfach ein Bekenntnis, daß ihr alle zu Gefangenen gemacht worden seid. Ihr könnt nichts anderes mehr tun als euch mit den Rosenkränzen, die ihr um den Hals tragt, zu erhängen!
Der heutige Tag bezeichnet einen Adventus, den ihr selbst zustande gebracht habt, meine kleinen nackten Freunde, es ist das Sakrament der Dummheit. Ihr habt zwanzig Jahrhunderte christlicher Verwirrung über den Haufen geworfen, nur um selbst das Kreuz auf euch zu nehmen. Eure Sexverehrung und eure Sexfeiern sind jetzt zu einem Super-Züchtungs-Dienst geworden … Ihr habt alle Rassen zur Bruderschaft erhoben, nur um ihre Gemüter wieder kindisch zu machen. Alles im Namen Stiers!
Eins will ich euch sagen: Wenn Stier gewählt wird, werdet ihr in diesem Lande die erste Narrenherrschaft der Welt geschaffen haben. Oder … irre ich mich? Ist es noch Zeit? Ist es noch Zeit, sich daran zu erinnern, was die Idee von Stier euch gegeben hat? Könnt ihr euch noch einmal die erste Seite des Buches vorstellen, das ihr alle zusammen schreiben werdet? Es ist eine saubere Seite, leer und weiß, gereinigt von jeder Spur dessen, was vorher darauf stand, bereit für eure eigenen kühnen Drucke. Nur rationales Denken kann dieses Kapitel beginnen – blauer Lehm liefert bloß einen Durchschlag wie mit Kohlepapier von dem, was vorher geschrieben war …
Die alten Götter haben Glauben gefordert. Ihr habt sie umgestoßen. Ihr müßt weiterhin alle Dinge umstoßen, die nicht in Frage gestellt werden können. Ihr müßt weiterhin zweifeln, denn nur Fragen und Zweifeln kann die Gewißheit bringen, die ihr alle sucht.«
Er steckte sich langsam eine Zigarette an und blies den Rauch gegen die Decke. »O. K., meine Klasse, das ist alles für heute … außer einem Letzten. Ich möchte euch allen zur Kenntnis geben, daß ich ernstlich daran zweifle, ob Richard Stier existiert …«
Die Luft explodierte geradezu von gellenden Schreien. Rasendes Geheul brandete von Insel zu Insel, als wahnsinnige Schneekinder die Faust schüttelten, ins Wasser sprangen und anfingen, wütend zu Paul hin zu schwimmen. Die Besucher auf Chebrexi zogen sich zurück und rannten zum Ausgang; Paul sah sich nach einer Waffe um, fand keine, duckte sich und nahm alle Kraft zusammen, um den ersten Angreifer zurückzustoßen.
Da gab es einen blendenden Blitz weißen Lichtes.
Das Kreischen hörte auf. Die Schwimmenden beruhigten sich, sie glitten so still dahin wie ihre Nachbilder in Pauls Augen. Stiermusik ertönte von der gewölbten Decke; als seine Sehkraft allmählich wiederkehrte, sah Paul eine Frau allein am Ufer stehen, mit erhobenen und über dem Kopf gekreuzten Armen. Sie trug ein weißes Gewand, der dreifache Perlenstrang um ihren Hals und das Diadem auf ihrem Haupt funkelten prächtig blau.
Die Stimme eines kleinen Mädchens stimmte den Gesang an, der bald zum Chor wurde: »Frau-Mutter Stier! Frau-Mutter Stier! Sie ist gekommen! Frau-Mutter Stier!«
»Ihr sollt diesem Mann keinen Schaden antun«, sag te Adrianne streng. »Denn ich habe ihn erwählt …«
Paul und Adrianne sprachen nicht eher, als bis sie die Treppe hinuntergegangen und in die geschützten Räume unterhalb des Adventuary eingetreten waren.
»Wirst du nicht einmal dankeschön sagen?« fragte sie.
»Hör zu, Adrianne, oder Stier Frau-Mutter, oder wie auch immer dein verdammter Name ist –«
»Warum ärgerst du dich über mich? Du warst da oben wirklich in Gefahr.« Sie lächelte ihm zu und nahm das blaue Perlendiadem aus ihrem Haar. »Ich habe mein Gewand auf links an, ich mußte mich hinter ein paar Büschen auf Chebrexi anziehen.«
»Woher kam das Licht?«
»In der Kuppeldecke sind Blitzlichter. Vor einer Woche hat man sie für die neue Oper dort installiert. Jetzt wird man sie ersetzen müssen. Übrigens, deine Rede hat mir
Weitere Kostenlose Bücher