Der große Stier
feuchten Rasierhandtuch poliert hatte, bewaffnete er sich unerbittlich mit Kamm, Reisetasche, Handtuch und dem Fahrkartenheftchen.
Er ging ins Wohnzimmer zurück, dort hockte das Mädchen im Indianersitz am Kopfende des Bettes und stieß mit allen zehn Fingern auf ihrer rechten Brust herum. Er zog die Vorhänge zurück und lächelte ihr zu.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Ich seh grad mal nach. Möchte nicht Krebs kriegen.«
»Du liebe Güte, nein.«
»Oh, du bist schon ganz angezogen. Ich glaub, du hast wirklich einen Job. Was für einen denn?«
»Wie: was für einen denn?«
»Was für’n Job?«
»Werbe-Agentur.«
»Und was machst du?«
»Werbung.«
»Ach so. Na ja, ich kann mir denken, daß es irgend jemand machen muß.« Sie zog das Bettuch zwischen ihren Beinen hoch und sah sich im Zimmer um.
»Was für eine hübsche kleine Wohnung! Gestern abend habe ich tatsächlich nicht viel davon gesehen, bloß die Duschzelle. Mensch, war ich blau!«
»Es ist Pulverkaffee da«, sagte er und vergrub dabei die Arme im Regenmantel, »und das Wasser ist schon heiß. Schlaf du ruhig noch ein bißchen, wenn du möchtest, ich muß den Autobus erwischen.«
»Du kannst weit sehen durch das Fenster da. Kannst du von hier aus San Francisco sehn?«
»Einmal hab ich es flüchtig zu sehen gekriegt, als ich vom Balkon heruntergefallen bin.«
»Ach! Na, ich glaube, ich zieh mich lieber an. Es war doch wirklich prima gestern abend, nicht?«
»Ja, wirklich prima.«
»Ich heiße Natalie.«
»Ich weiß.«
»Und du heißt … Paul?«
Er nickte.
»Viel Vergnügen bei der Werbung!«
Er warf ihr einen Handkuß zu und schloß die Tür hinter sich. Als er oben auf der Treppe stand, schob er seine Sonnenbrille zurecht und warf einen Blick über sein Reich. Wie die Häuser sich jenseits des Tals gleich Würfelzucker-Stücken aufschichteten, wie die silberne Morgensonne feurige Schlangen in die Gewässer der Bucht rieseln ließ, wie die Bäume und Büsche in der leichten Brise schauerten – es hätte Neapel sein können! Die Bucht von Nawarino! Monte Carlo!
Aber das war es ja nicht, es war Sausalito. Um genau zu sein, es war die Hurrikanschlucht, und er stand dreiunddreißig Steinstufen oberhalb der ungepflasterten Straße, diezur Bushaltestelle führte.
Paul Odeon ging herunter. Pflanzen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte, klammerten sich an seine Hosenbeine, blattlose Zweige peitschten auf seinen Regenmantel und hinterließen feuchte Spuren. Auf der drittletzten Stufe bewegte sich eine fette Schlange mit feuchter, olivenfarbiger Haut über die Steinplatte, mit winzigen Bewegungen, und zog einen Faden ihrer morgendlichen Absonderung nach sich. Paul hielt seinen Absatz wenige Zentimeter über ihren Kopf und genoß einen göttlichen Taumel, doch dann schritt er über sie hinweg und sprang wie ein Fallschirmjäger mit beiden Füßen gleichzeitig auf die Straße.
Er zählte seine vierhundertsiebenundachtzig Schritte bis zur Bushaltestelle, die vor der chinesischen Wäscherei lag. Er riß einen Fahrschein ab, kaufte sich aus einem gelben Plastikautomaten eine Zeitung, zündete sich eine Zigarette an und dachte an die Erzählung, die er eines Tages schreiben würde … Das Studio-Apartment mit dem Sofa, das man zu einem Bett umklappen konnte. Die eine Stufe, die zur Küche führte. Der Anblick der Würfelzucker-Häuser auf der anderen Straßenseite. Die Einsamkeit. Und dreiunddreißig Stufen, die nach unten führten …
An der Bushaltestelle war jetzt die übliche Gruppe von Frauen versammelt und unterhielt sich über dummes Zeug.
… Und der Kerl, der dort lebte, würde ein Künstler sein. Ein Maler. Er lebt mit einem Mädchen aus Belgi en zusammen (sehr verführerisch, mit vollen Brüsten), das er einmal bei einer Party gemalt hat, das ihn auf eine fremdartige Weise liebt und das all die Gewächse und Blumen zu beiden Seiten der nach unten führenden Steintreppe gepflanzt hat. Sie geraten über etwas in Streit, er verstößt sie, die von ihr gepflanzten Gewäch se und Blumen werden böse auf ihn und fangen an, während sie weiter wachsen, ihn zu ergreifen …
Der Greyhound nach San Francisco hält knirschend in einer Wolke bläulichen Monoxyds. Paul stieg ein, lächelte der Busfahrerin zu und setzte sich auf seinen gewohnten Platz, links hinten oberhalb des Rades.
… Eines Morgens bekommt er die Tür nicht auf und kann nicht hinausgehen, weil die Weinranken den Tür griff umwachsen haben. Und die Wurzeln haben
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