Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Hartschiers lebte mit ihrer Tochter in dem alten Hause von einem kleinen Witwengehalt und einer gewissen Summe, welche ihr jährlich dafür bezahlt wurde, daß sie ohne höhere Bewilligung das Haus nicht verkaufte noch an der Fassade etwas zerstören oder ändern ließ.
Die Tochter, Agnes geheißen, war das Urbild jener letzten Zeichnung in dem Album des schönheitskundigen Lys, der erst das Haus und sodann, das Innere desselben beschauend, auch das Juwel entdeckt hatte, das das Kästchen umschloß; die Mutter war nicht nur die Hüterin der Schönheit von Kind und Haus, sondern auch ihrer eigenen, soweit sie noch in einem lebensgroßen Bildnisse von der Hand ihres toten Eheherren erglänzte. Von einem hohen Kamme überragt, zu jeder Seite der Stirn drei querliegende Locken, beherrschte sie im Schimmer ihres Brautstandes das Gemach, und vor dem Bilde standen jederzeit zwei rosenrote Wachskerzen, die noch nie gebrannt hatten. Trotz der flachen und schwächlichen Malerei machte sich die ehemalige Schönheit geltend; es war dabei nicht zu erkennen, ob eine gewisse Seelenlosigkeit mehr von dem Ungeschick des Malers oder dem Wesen der Frau herrührte; dennoch regierte sie mit dem Bilde noch immer das Haus und brauchte bloß einen Blick darauf zu werfen im Vorübergehen, um die Schönheit der Tochter sich nicht über den Kopf wachsen zu lassen. Diese Blicke wiederholten sich während des Tages ebenso regelmäßig wie das Eintauchen ihrer Fingerspitzen in das Weihwasserkesselchen neben der Stubentüre. Von der Seele aber, die in der Reihenfolge des Werdens ihr ohne Aufenthalt entschlüpft, war ein Teil in der Tochter wieder zum Vorschein gekommen, freilich so schwank, still und elementarisch wie das Leibliche, in dem sie wohnte.
Als Lys mit gewandten und angenehmen Sitten sich soweit eingeführt hatte, daß er jene Figur zeichnen durfte, zwar nicht in das bewußte Buch, sondern vorerst in größerer Form auf ein besonderes Studienblatt, fand er weder den Mut noch den Anlaß, den gewohnten Zyklus durchzuführen, und es blieb bei dem einzigen Eintrag in das Album, den er nach der Studie mit Liebe und Sorgfalt vornahm. Er verbrachte zuweilen einen Abend bei den Frauen, führte sie auch einmal in das Theater oder in einen Lustgarten, und wo sie erschienen, erregte die seltene Erscheinung der Agnes ein so allgemeines und zugleich reines Wohlgefallen, daß sich keinerlei Nachrede oder Mißdeutung vernehmen ließ. Alle ihre ruhigen Bewegungen waren einfach und kurz nur auf den nächsten Zweck gerichtet und daher voll Anmut; ihre Augen glänzten, wenn sie von irgendeinem Reiz angesprochen wurde, mit der treuherzigen Unschuld eines jungen Tieres, das noch keine Mißhandlung erfahren hat, und so kam es, daß Lys, anstatt eine seiner früheren Liebeleien anzufangen, unwillkürlich in einen ehrenhaften ernstern Verkehr hineingeriet, der ihm zum bisher unbekannten Bedürfnis wurde. Seine Befangenheit mehrte sich, wenn die Mutter in der Absicht, die Bravheit des Kindes zu rühmen, in dessen Abwesenheit erzählte, wie es nie imstande gewesen sei, die kleinste Lüge auch nur zum Scherz aufzubringen, und schon in frühsten Jahren jede Übertretung selbst angezeigt habe, und zwar mit einer solchen Ruhe, wenn nicht Neugierde über den Erfolg, daß die Strafe als unmöglich oder überflüssig erschien. Die Mutter konnte dann in ihrer Weise, um nicht selbst für unklug zu gelten, die Andeutung nicht unterlassen, das Kind dürfte allerdings keines der geistreichsten, dafür aber um so ehrlicher und vollkommen aufrichtig sein. Lys wußte aber bereits, daß Agnes klüger war als die Mutter, wenn sie dessen auch noch nicht innegeworden; nicht minder übertraf sie dieselbe an Geschicklichkeit; denn er bemerkte, daß sie häusliche Geschäfte rasch und geräuschlos besorgte, ohne je etwas zu zerbrechen, während die Mutter alles mit beträchtlichem Aufwand von Hin-und Hergehen, Reden und Klappern verrichtete und ihre Taten nicht selten mit dem Klirren eines entzweigegangenen Geschirres abschloß. Alsdann pflegte die Tochter eine erklärende oder tröstliche Bemerkung zu machen, welche dem graziösesten Witze gleich und doch mit tiefem Ernste rein sachlich gemeint und gegeben war. Allein welcher Art der Geist oder das Wesen dieses Geschöpfes sei, blieb ihm unbekannt, und wenn man ihn wegen seiner Entdeckung beglückwünschte und erklärte, die Agnes werde das beste Malerfrauchen abgeben, das man finden könne, still, harmonisch und eine
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