Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Abschiedsgrüßen und Glückwünschen. Agnes aber seufzte dabei verstohlen und atmete erst etwas freier, als wir vor dem Tore waren. Ohne der Vorfälle der letzten Nacht mit einem Worte zu gedenken, fing sie an zu plaudern. Ich mußte berichten, wie die heutige Lustbarkeit sich veranlaßt habe, wer draußen zu treffen sei und wann wir wieder zurückkehrten? Denn sie wagte noch nicht, offen vorauszusetzen, wie sie hoffte, daß sie nicht mit mir, sondern mit Lys heimfahren werde. Ich wußte noch weniger einen Aufschluß zu erteilen und sprach, die allgemeine Vermutung aus, es werde die ganze Gesellschaft zusammen aufbrechen, und wenn es auf mich ankomme, so gehe man heute überhaupt noch nicht heim! Da sei sie auch dabei, sagte sie fast so fröhlich, wie wenn es ihr Ernst wäre. Als wir schon das weiße Landhaus in einiger Entfernung glänzen sahen, geriet Agnes aufs neue in Bewegung; sie wurde rot und blaß, und da sich zur Seite der Straße auf einem kleinen Hügel eine Kapelle zeigte, verlangte sie auszusteigen.
Sie eilte, ihr Silbergewand zusammenfassend, den Stufen weg hinan und ging in das Kirchlein; der Kutscher nahm seinen Hut ab, stellte ihn neben sich auf den Bock, bekreuzte sich und betete, die fromme Muße benutzend, ein Vaterunser. So blieb mir nichts übrig, als verlegen unter die Kapellentür zu treten und zu warten, bis die unerwartete Zwischenhandlung vorüber war. An einem der Türpfosten sah ich ein gedrucktes Gebet hinter Glas gefaßt aufgehängt, welches ungefähr folgende Überschrift trug Gebet zur allerlieblichsten, allerseligsten und allerhoffnungsreichsten heiligen Jungfrau Maria, der gnadenreichen und hilfespendenden Fürbitterin Mutter Gottes.
Approbiert und zum wirksamen Gebrauche empfohlen für bedrängte weibliche Herzen durch den hochwürdigsten Herren Bischof usf. Dazu war noch eine Gebrauchsanweisung gefügt, wie viele Ave und andere Sprüche herzusagen seien. Dasselbe Gebet lag auf Pappe gezogen auf ein paar alten Holzbänken umher. Sonst zeigte das Innere der Kapelle nichts als einen einfachen Altar, der mit einer verblichenen veilchenfarbigen Decke behangen war. Das Altarbild zeigte den Englischen Gruß, von roher Hand gemalt, und vor demselben stand noch ein kleines Marienbildchen im starren Reifröckchen von Seide und Metallflittern in allen Farben. Rings um den Altar hingen an der Wand geopferte Herzen von Wachs, in allen Größen und auf die mannigfaltigste Weise verziert; im einen stak ein seidenes Blümchen, im andern eine Flamme von Rauschgold, das dritte durchbohrte ein Pfeil, wieder ein anderes war ganz in rote Seidenläppchen gewickelt und mit Goldfaden umwunden, und eines war gar mit großen Stecknadeln besetzt wie ein Nadelkissen, wohl zur Schilderung der schmerzlichen Pein seiner Spenderin; dagegen schien ein mit grüner Farbe und vielen roten Röschen bemaltes Herz von der zur Zufriedenheit gelungenen Heilung Kunde zu geben.
Leider versäumte ich, den Text des Gebetes selbst zu lesen, weil ich nur auf die Beterin sehen mußte, die in ihrem heidnischen Göttergewande, den keuschen Halbmond über der Stirne, auf der Altarstufe vor dem wächsernen Frauenbilde kniete, mit zitternden Lippen das Gebet von einem der Pappdeckel ablas, dann die Hände faltete, zu dem Bilde aufblickte und die vorgeschriebene Zahl der übrigen Sprüche, die zum Glücke nicht groß war, leise murmelte oder flüsterte. In dieser großen Stille und bei diesem Anblicke fühlte ich das Ineinanderweben der Zeiten, und es war mir fast zu Mut, als lebte ich vor zweitausend Jahren und stünde vor einem kleinen Venustempel irgendwo in alter Landschaft. Ich dünkte mich jedoch unendlich erhaben über die Szene, so artig sie war, und dankte meinem Schöpfer für das stolze und freie Gefühl, das mich beseelte.
Endlich schien Agnes sich der Hilfe der Himmelskönigin genugsam versichert zu haben; sie erhob sich mit einem Seufzer und ging nach dem in meiner Nähe hängenden Weihkessel. Da sah sie mich in der Türe gelehnt, wie ich sie aufmerksam betrachtete, und erinnerte sich über meiner ganzen Haltung daran, daß ich ein Ketzer war. Ängstlich tauchte sie den Wedel tief in den Kessel, eilte mir damit entgegen und besprengte mir das Gesicht über und über mit Wasser, indem sie mit dem Wedel viele Kreuze schlug. So hatte sie mich in weniger als zwölf Stunden zum zweiten Male durchnäßt, erst mit ihren Tränen und nun mit dem Weihwasser, und ich rückte doch den Hals etwas unbehaglich her und hin, da mir
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