Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
recht anschaulich zu machen, eine Darstellung meines bisherigen Lebens und Erfahrens. Kaum war ich aber recht an der Arbeit, so vergaß ich vollkommen meinen kritischen Zweck und überließ mich der bloß beschaulichen Erinnerung an alles, was mir ehedem Lust oder Unlust erweckt hatte; jede Sorge der Gegenwart entschlief, während ich schrieb vom Morgen bis zum Abend und einen Tag wie den andern, aber nicht wie ein Sorgenschreiber, sondern wie einer, der während schöner Frühlingswochen in seinem Gartensaale sitzt, ein Glas alten Landweines zur Rechten und einen Strauß jünger Feldblumen zur Linken. Ich hatte in der trüben Dämmerung, die mich schon geraume Zeit umgab, das Gefühl bekommen, als ob ich eigentlich keine Jugend erlebt hätte; und nun entwickelte sich unter meiner Hand eine Bewegung jungen Lebens, die trotz aller Bescheidenheit der Zustände und Verhältnisse mich gefangennahm, beschäftigte und bald mit glückseligen, bald mit reumütigen Empfindungen erfüllte.
So gelangte ich bis zu der Stunde, da ich als Rrekrut auf dem Felde stand und die schöne Judith auswandern sah, ohne mich regen zu dürfen. Hier legte ich die Feder weg, weil das seither Erlebte mir noch gegenwärtig war. Die vielen beschriebenen Blätter brachte ich unverweilt zu einem Buchbinder, um sie mittelst grüner Leinwand in meine Leibfarbe kleiden zu lassen und das Buch in die Lade zu legen. Nach einigen Tagen ging ich vor Tisch hin, es zu holen. Da hatte der Handwerker mich mißverstanden und den Einband so fein und zierlich gemacht, wie es mir nicht eingefallen war, ihn zu bestellen. Statt Leinwand hatte er Seidenstoff genommen, den Schnitt vergoldet und metallene Spangen zum Verschließen angebracht. Ich trug die Barschaft, die ich noch besaß, bei mir; sie hätte noch für mehrere Tage ausreichen sollen, jetzt mußte ich sie bis auf den letzten Pfennig hinlegen, um den Buchbinder zu bezahlen, was ich ohne weitere Besinnung tat, und anstatt zum Mittagessen zu gehen, konnte ich mich mit dem unnützesten Werke der Welt in der Hand nach Hause verfügen. Zum ersten Male in meinem Leben saß ich nicht zu Tisch, wohl fühlend, daß es mit dem Borgen und Bezahlen vorbei sei. In einigen Tagen wäre das merkwürdige Ereignis allerdings doch eingetreten; dennoch überraschte es mich jetzt mit sehr stiller, aber unerbittlicher Gewalt. Ich verbrachte die zweite Hälfte des Tages auf meinem Zimmer und legte mich abends, früher als gewöhnlich, ungegessen zu Bett. Dort erinnerte ich mich plötzlich der weisen Tischreden der Mutter, wenn ich als kleiner Junge das Essen getadelt hatte und sie mir dann vorhielt, wie ich einst vielleicht froh sein würde, nur solches Essen zu haben. Die nächste Empfindung war ein Gefühl der Achtung vor der ordentlichen Folgerichtigkeit der Dinge, wie alles so schön eintreffe; und in der Tat ist nichts so geeignet, den notwendigen Weltlauf gründlich einzuprägen, als wenn der Mensch hungert, weil er nichts gegessen hat, und nichts zu essen hat, weil er nichts besitzt, und dies, weil er nichts erworben hat. An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich von selbst alle weiteren Folgen und Untersuchungen, und indem ich nun völlige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war, überdachte ich von neuem mein Leben, trotz des grünseidenen Buches, das auf dem Tische lag, und gedachte meiner Sünden, welche jedoch, da der Hunger mich unmittelbar zum Mitleid mit mir selber stimmte, sich ziemlich glimpflich darstellten.
Hierüber schlief ich friedfertig ein. Zu gewöhnlicher Zeit erwachte ich, auch zum ersten Mal ohne zu wissen, was ich am heutigen Tage essen würde.
Ich hatte seit einiger Zeit das Frühstück abgeschafft, da ich es überflüssig gefunden; nun wäre ich froh gewesen, es noch zu bekommen, allein die Wirtsleute durften nicht erfahren, daß ich hungerte, so wie es mir jetzt klar wurde, daß das erste Erfordernis meiner neuen Lage die strengste Geheimhaltung sei. Weil ich als ein Überbleibsel schon abgezogener Jugendvölker lebte, besaß ich in diesem Augenblicke nicht einen einzigen Vertrauten, dem man eine so auffällige Tatsache eröffnen konnte. Denn wer, ohne ein Bettler zu sein, eines Tages mitten in der Gesellschaft faktisch nicht mehr essen kann, macht ein Aufsehen wie ein Hund, dem man den Suppenlöffel an den Schwanz gebunden hat. Statt mich hinter meinen gemalten Wäldern still verborgen halten zu können, war ich daher gezwungen, um die Mittagszeit
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