Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
lautlos stehen, bis ich weggefahren war.
Das neue Glück, das mich erfüllte, trabte sich jedoch schon am andern Morgen, als ich bedachte, daß ich ihr nun das Geheimnis meines Gewissens und das Schicksal der Mutter enthüllen müsse. Denn wenn es jetzt ein Urteil gab, das ich fürchtete, so war es dasjenige dieser einfachen und wundersamen Frauenerscheinung, und doch war mir weder Freundschaft noch Liebe zwischen ihr und mir denkbar, wenn sie nicht alles wußte.
Ich erwartete sie deshalb mit ebensoviel Furcht als Ungeduld, bis sie am zweiten Vormittage kam. Eine gewisse Niedergeschlagenheit war in die Freude des Wiedersehens gemischt, und zwar bei ihr wie bei mir. Nachdem sie sich in meiner Wohnung ein wenig umgeschaut, sagte sie, Hut und Überwurf weglegend:
»Es ist doch recht hübsch in diesem großen Amtsdorfe, fast wie in einer Stadt. Ich hätte Lust, hieher zu ziehen und mehr in deiner Nähe zu sein, wenn nur –«
Sie hielt verschüchtert inne, gleich einem jungen Mädchen, fuhr dann aber : »Sieh, Heinrich, schon mehrmals bin ich seit meiner Ankunft auf dem Bergpfade gewesen, wo du mich getroffen hast, um hier herüberzuschauen, da ich mir nicht zu kommen getraute!«
»Nicht getraut! Eine so tapfere Person!«
»Sieh, das ging so zu: Du liegst mir einmal im Blut, und ich habe dich nie vergessen, da jeder Mensch etwas haben muß, woran er ernstlich hängt! Nun erschien vor einiger Zeit in unserer Kolonie ein neuer Landsmann aus dem Dorfe, der sich jedoch auch schon einige Jahre drüben herumgetrieben hat. Da von den heimatlichen Dingen gesprochen wurde, frug ich beiläufig nach dir und ob man im Dorfe nichts von dir wisse, hoffte aber nicht, etwas zu erfahren, woran ich längst gewöhnt war. Der Mann besann sich ein Weilchen und sagt: ›Ja, wartet, wie ist denn das? Ich habe davon gehört‹, und nun erzählte er.«
»Was erzählte er?« fragte ich traurig.
»Er habe gehört, daß du verarmt in der Fremde herumgezogen seist, die Mutter in Schulden gebracht und darüber habest sterben lassen und daß du dann in elendem Zustande heimgekehrt seiest und als ein Schreiberlein irgendwo dein Leben fristest. Als ich so dein Unglück vernahm, packte ich unverzüglich auf, um zu dir zu kommen und bei dir zu sein!«
»Judith, das hast du getan?« rief ich.
»Was meinst du denn? Sollte ich, die dich als grünen Knaben einst so herzlich geliebt und gekost hat, dich nun in Not und Kummer wissen, ohne zu dir zu kommen? – Aber da ich nun kam, da war alles nicht wahr! Zwar die Mutter ist gestorben, du aber bist in guten Zuständen aus der Fremde gekehrt und stehst jetzt beim Regierungswesen und in Ehr und Ansehen, wie ich wohl merke, obgleich man sagt, du seiest etwas stolz und unfreundlich! Dies letztere ist nun freilich auch nicht wahr!«
»Und du bist also meinetwegen aus Amerika aufgebrochen, obgleich du mich für schlecht gehalten hast?«
»Wer sagt das? Ich habe dich trotzdem nicht für schlecht, nur für unglücklich gehalten!«
»Das Schlimmste an dem Unglück ist aber dennoch wahr, meine Verschuldung! Ich habe wirklich meine Mutter in Kummer und Sorgen gebracht und bin eben recht gekommen, der daran Sterbenden die Augen zuzudrücken!«
»Wie ist das denn zugegangen? Erzähle mir alles, denke aber nicht, daß ich mich von dir werde abwendig machen lassen!«
»Dann hat dein Urteil keinen Wert, wenn es nur durch deine gütige Zuneigung bedingt wird!«
»Eben diese Neigung ist Urteils genug, und du mußt es anerkennen! Doch erzähle nur!«
Ich tat es in ausführlicher Weise, so ausführlich, daß ich gegen das Ende hin die Aufmerksamkeit auf meine Rede verlor und zerstreut wurde; denn ich spürte inzwischen den alten Druck von der Seele weichen und wußte, daß ich frei und gesund war. Plötzlich unterbrach ich mich und sagte: »Es nützt nichts, länger zu schwatzen! Du hast mich erlöst, Judith, und dir danke ich's, wenn ich wieder munter bin; dafür bin ich dein, solang ich lebe!«
»Das läßt sich hören!« erwiderte sie mit glänzenden Augen und mit einem Ausdrucke von Zufriedenheit in ihren schönen Gesichtszügen, daß der Anblick mich in der Erinnerung immer wieder irremachte, wenn ich im Laufe der Jahre zu erwägen hatte, wie mit der Schönheit der Dinge doch nicht alles getan und der einseitige Dienst derselben eine Heuchelei sei wie jede andere. Ja, neben der Erinnerung an Dortchens Angesicht am Tische des Kaplans leuchtet mir Judiths Anblick fort wie ein Doppelstern. Beide Sterne sind
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