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Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Hintergrunde des Kirchenschiffes erscheint eine Art Orgelchor, auf dem sich eine gewisse Anzahl Säulen von geringerem Durchmesser als am Eingang, dafür aber von tadelloser Reinheit der Linien erheben.
    Hier konnten Olivier Sinclair, Miß Campbell und deren beide Onkels einen Augenblick verweilen.
    Von diesem Punkte aus bot sich eine bezaubernde, nach dem freien Himmel offene Perspective; das vom Licht durchdrungene Wasser ließ die Anordnung des unterseeischen Grundes erkennen, der aus Querschnitten von vier-bis siebenseitigen Säulenschäften bestand, welche gleich Mosaikpflaster dicht aneinander liegen. An den seitlichen Wänden wechselte ein wunderbares Spiel von Licht und Schatten. Alles erlosch, wenn eine Wolke, wie ein Gazevorhang auf der Bühne, vor der Mündung der Grotte vorüberzog. Alles glänzte dagegen und schmückte sich mit allen sieben Farben des Regenbogens, wenn ein vom Krystall des Grundes zurückgeworfener Sonnenstrahl sich in langen leuchtenden Streifen bis zur Decke der Wölbung erhob.
    Weiterhin brandete das Meer an den ersten Pfeilern des ungeheuren Eingangsbogens. Dieser Rahmen, der sich so schwarz abhob, als ob er aus Ebenholz geschnitzt wäre, ließ alle Herrlichkeiten hinter sich desto voller zur Geltung kommen. Noch weiter draußen erschienen Himmel und Wasser in blendendem Glanze, und in weiter Ferne Jona, dessen weiße Klosterruinen deutlich hervorschimmerten.
    Wirklich bezaubert durch diese feenhafte Pracht, vermochte Niemand seinen Empfindungen Worte zu verleihen.
    »Welcher Zauberpalast! rief endlich Miß Campbell, und welch’ prosaischer Geist müßte es sein, der nicht glauben könnte, Gott habe denselben für die Sylphen und Nixen geschaffen! Für wen sollten beim Athmen des Windes die Töne dieser Aeolsharfe erklingen? Ist das nicht jene überirdische Musik, welche Waverley in seinen Träumen hörte, jene Stimme Selmas, deren Accorde unser Romandichter aufgezeichnet hat, um damit seine Helden einzuschläfern?
    – Sie haben Recht, Miß Campbell, sagte Olivier Sinclair; sicherlich dachte Walter Scott, wenn er seine Bilder in der poetischen Vergangenheit der Hochlande suchte, an den Palast Fingal’s.
    – O, hier möcht’ ich den Schatten Ossian’s anrufen! fuhr das schwärmerische junge Mädchen fort. Warum sollte der unsichtbare Barde nicht nach fünfzehnhundertjährigem Schlummer auf meine Stimme erscheinen! Ich stelle mir so gern vor, daß der Unglückliche, ebenso blind wie Homer und ebenso Dichter wie dieser, wenn er die großen Waffenthaten seiner Zeit besang, sich oftmals in diesen Palast geflüchtet hat, der noch heute den Namen seines Vaters trägt.
    Hier haben gewiß die Echos Fingal’s häufig genug die epischen und lyrischen Eingebungen seines Geistes im reinsten gaëlischen Idiom wiedergeklungen. Glauben Sie nicht, Herr Sinclair, daß der alte Ossian auf demselben Platze gesessen haben könne, auf dem wir uns befinden, und daß die Töne seiner Harfe sich hier mit Selmas Stimme vermischten?
    – Wie sollte ich nicht glauben, Miß Campbell, erwiderte Olivier Sinclair, was Sie mit so ausdrucksvoller Ueberzeugung aussprechen?
    – Wenn ich ihn nun riefe?« murmelte Miß Campbell.
    Und mit ihrer frischen Stimme ließ sie wiederholt den Namen des alten Barden durch das Zittern des Windes erschallen.
    Doch trotz des sehnlichsten Verlangens der Miß Campbell, obwohl sie ihn dreimal gerufen, antwortete ihr doch nur das Echo. Der Schatten Ossian’s erschien nicht im väterlichen Palaste.
    Inzwischen war die Sonne hinter dichten Nebeln versanken. Die Grotte füllte sich mit düsteren Schatten und draußen wurde das Meer immer unruhiger; seine langen Wellen begannen sich schon an den letzten Basaltsäulen zu brechen.
    Die Besucher begaben sich also nach der schmalen, schon halb von Wasserschaum bedeckten Galerie zurück; sie gingen raschen Schrittes um die vom Winde heftig getroffene Ecke der Insel, gegen welche der Sturm von der Seeseite her andonnerte; weiterhin befanden sie sich vorläufig geschützt auf dem an der anderen Seite verlaufenden Uferdamm.
    Die schlechte Witterung hatte sich seit zwei Stunden noch merkbar verschlimmert; der rasende Wind stieß sich schon an der hohen Küste Schottlands und drohte zum vollen Orkan anzuwachsen.
    Durch die Basaltwand des Strandes gedeckt, konnte Miß Campbell mit ihren Begleitern jedoch Clam Shell bequem erreichen.
    Am folgenden Tage entfesselte sich der Wind unter erneutem Sinken der Barometersäule mit furchtbarem

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