Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gute Liebhaber

Der gute Liebhaber

Titel: Der gute Liebhaber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steinunn Sigurdardóttir
Vom Netzwerk:
von vielen hundert Frauen; nun war er hilflos, mutterlos, ein Waisenkind, und die Leere in der Seele war so groß, dass er sie fast schon nicht mehr spürte, beziehungsweise nicht mehr spürte, dass er überhaupt eine Seele besaß. Ein Zustand, gegen den keine Tränen halfen.
    Anlass für Tränen war eine Lücke. Eine Una im Nachbarhaus. Wenn das Leben wie das Gemälde eines großen Meisters von einer Frau in der Landschaft war, dann war in seinem die Person, die Mitte des Bildes, mit einem Terpentinlappen weggewischt worden. Was blieb, war eine Vorstellung von der ursprünglichen Farbe, aber keine Form. Die Frau in dem Gemälde war nicht dort, wo sie sein sollte, und er selber war kein Maler. Der Meister des Originals stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert, und niemand konnte die fehlende Frau malen, niemand wusste, wie sie zu sein hatte, nur er, Karl Ástuson, aber er war kein Maler. Sein Lebenswerk, abgesehen von Finanzspekulationen, bestand darin, alle möglichen Frauen in die Lücke in dem Gemälde einzufügen, wo sich die ursprüngliche Frau befunden hatte, die einzig wahre.
    Jedes Mal, wenn er mit einer Liebhaberin zusammen war, ging er so vor, als hätte er Una unter den Händen. Das Licht war aus. Er stellte sich Una vor und behandelte die Liebhaberin so wie ein Künstler sein Werk. Nur ganz selten einmal gelang es ihm nicht, die Wünsche der Liebhaberin voll und ganz zu erfüllen. Er selber wollte keine Befriedigung, das verstieß gegen die Regel.
    Fast alle Liebhaberinnen ließen das unbeanstandet. Doch Doreen Ash, die Frau, die das System durcheinanderbrachte, bildete natürlich eine Ausnahme. Er hatte bereits das Taxi angerufen, aber sie machte keine Anstalten, aus dem Sofa aufzustehen, sondern sagte plötzlich:
    Entschuldige meine Frage, aber warum willst du keinen Orgasmus?
    Es ist einfach so gelaufen.
    Also Masochist?
    Nichts dergleichen.
    Masochismus kann einem übel mitspielen. Ich habe mich selber auch im Verdacht.
    So hast du aber nicht auf mich gewirkt.
    Da lachte sie, sprang auf und marschierte zur Haustür. Sie war so schnell, dass er ihr nicht die Tür aufhalten konnte.
    In der grellen Morgensonne draußen hielt sie inne und sagte: Da fehlt aber etwas in deiner Geschichte.
    Wieso?
    Du hast mit keinem Wort deinen Vater erwähnt.
    Du hast nicht nach ihm gefragt.
    Okay, dann frage ich jetzt.
    Ich kenne ihn nicht.
    Ist er Isländer?
    Ich denke schon.
    Du weißt also nicht, wer er ist?
    Nein.
    Wieso?
    Bei mir wurde kein Vater angegeben.
    Wusste deine Mutter nicht, von wem du warst?
    Karl Ástuson lachte und sagte, dass sie es bestimmt gewusst hatte.
    Aber sie hat dir nie gesagt, wer er war?
    Nein.
    Wie spannend. Also ein hundertprozentiger Muttersohn.
    Vielleicht Stoff für dich, um ein Buch daraus zu machen, sagte Karl Ástuson.
    Da sagst du was, entgegnete Doreen Ash.
    Muttersohn, was ist das denn für ein Wort?
    Ein prima Wort, präzise und transparent. Es könnte von mir stammen.
    Entschuldige, aber es ist wirklich ein komisches Wort. Alle Söhne sind Söhne von Müttern.
    Unterschiedlich stark. Und unterschiedlich stark auch Söhne von Vätern. Was zu beweisen war.
    Sie lachten beide, und Doreen Ash ging so schnell zur Straße, dass er kaum mithalten konnte.
    Darf ich das Taxi für dich bezahlen?, fragte Karl Ástuson. Es wartet hier schon so lange.
    Das darfst du nicht, sagte sie streng.
    Er amüsierte sich über ihre Strenge und musste unwillkürlich lächeln. Sie warf ihm einen Blick zu, als wäre ihr soeben eine Eingebung gekommen, wünschte ihm dann mit heiserer Stimme gute Nacht – obwohl von Nacht eindeutig keine Rede mehr sein konnte.
    Sie stieg so rasch in das Auto ein, dass er ihr keinen Abschiedskuss mehr geben konnte, die Tür wurde zugeschlagen, und er stand mit halb ausgestreckten Händen da, wie ein Mann, der ins Leere greift. Er sah dem Wagen nach, bis er um die nächste Ecke bog.
    Er hätte natürlich gleich unter die Dusche gehen sollen, wie es die Regel war, wenn eine Liebhaberin das Haus verlassen hatte, aber stattdessen mixte er sich noch einen Gin Tonic und ließ sich genüsslich von seiner Wirkung durchrieseln. Er war heilfroh, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Gleichzeitig verwunderte er sich über sich selber, dass er die ganze Zeit nie auf der Hut vor Halbschwestern gewesen war. In einer Großstadt war die Chance statistisch gesehen verschwindend gering, dass er sich eine Halbschwester als Liebhaberin herausfischte; doch jetzt auf einmal war ihm eine Frau

Weitere Kostenlose Bücher