Der gute Liebhaber
hatte nur gesagt, dass sie sich ein paar Sachen ausleihen wollte. War es denkbar, dass sie ihn getäuscht hatte? Dass die beiden Frauen heimlich zur Kellertür hinaus und hinüber zu Una gegangen waren, weil sie ihn für komplett durchgeknallt hielten und lieber Zuflucht bei diesem brutalen Ingi Bói gesucht hatten?
Er hörte überhaupt nichts mehr von den beiden – war das normal? Er stand auf und ging zum Schlafzimmer. Sein Herz schlug schneller, als er geschäftiges Herumwuseln hörte. Sigríður streckte ihren Kopf zur Tür heraus und sagte: Du vermisst uns wohl schon?
Nein, nein, antwortete er verlegen, es steht einfach so viel auf dem Spiel, dass ich mit den Nerven zu Fuß bin.
Das wird schon alles, erklärte Sigríður. Es ist allerdings kein leichtes Unterfangen, Una mit Sachen von mir auszustaffieren.
Er setzte sich wieder aufs Sofa, belegte einen kompletten Eierkuchen mit Ziegenkäse aus entfernten Weltgegenden und verschlang ihn so schnell, als stünde er unter enormem Zeitdruck, und dazu trank er gierig eine weitere Tasse Kaffee. Gleichzeitig schoss es ihm durch den Kopf, dass er nach diesen Kaffeemengen in der nächsten Zeit dauernd zum Klo rennen müsste, was auf einer Flucht nicht sonderlich günstig war. Nein, es war keine Flucht, es war eine Entführung. Er entführte eine Frau, nicht gerade ein feines Benehmen. Aber im Märchen ist nicht immer Platz für feines Benehmen.
Er stellte sich Una vor, wie sie in ihrem langen, veilchenblauen Mantel zum Haus von Sigríður geeilt war, eine Szene wie bei einem Gefangenenaustausch in einem Film. Nur dass derjenige, der Una am alten Ort bewachen sollte, schlief und der andere, der sie in Empfang nehmen sollte, nicht genügend Verstand besaß, sie durchs Fenster zu beobachten und darauf zu achten, dass alles mit rechten Dingen zuginge.
Karl Ástuson lachte, als Una im Wohnzimmer erschien.
Ich habe lieber nicht in den Spiegel geschaut, sagte sie.
Ja, das ist vielleicht auch besser so, entgegnete er.
Ist das der Dank?, fragte Sigríður in ihrem weinerlichsten Ton, und alle mussten lachten.
Aus einer bezaubernden Frau unter vierzig war eine reizlose Frau geworden, die auf die sechzig zuging, in viel zu kurzen Lodenhosen und einem unförmigen rotbraunen Pullover, der an ihr herumschlabberte. In ihren Mantel würde sie nicht mehr hineinpassen.
Ich ziehe lieber das Pyjamaoberteil an, sagte sie. Das macht nichts, es könnte eine Bluse sein.
Das stand ihm also bevor, mit einer Frau in einer nachtblauen Schlafanzugjacke zu reisen, einem unwirklichen Kleidungsstück, das er durch das Fenster gesehen hatte und darauf gefasst gewesen war, für den Rest seines Lebens davon zu träumen. Stattdessen durfte er es berühren, sooft er wollte. Damit konnte man gleich beginnen. Er streichelte den Ärmel bis zur Schulter hinauf und sagte: Was für eine schöne Farbe.
Winterblau, sagte Una.
Ein schönes Wort. Hast du es selber erfunden?
Ich weiß es nicht. Ich dachte an das Leben, es kam mir winterblau vor.
In meinem Haus im Süden scheint ewig die Sonne. Möchtest du dorthin?
Darf ich mir das auf dem Weg zum Flughafen überlegen, ich bin mir nicht sicher. Spielt es eine Rolle für dich, ob wir Richtung Süden oder Westen fahren?
Eigentlich wollte ich nach Westen, aber ich kann auch genauso gut in den Süden fahren, wenn du möchtest.
Es würde dir keine Umstände machen?
Nein.
Er umarmte Una kurz und fest und flüsterte ihr ins Ohr: Jetzt kommst du mit mir.
Ich komme mit dir, antwortete sie.
Auf der Treppe vor dem Haus hielt er Una bei der Hand, und sie stützte sich auf ihn, als sei ihr schwindelig. Er seinerseits fürchtete Ingi Bói, es hätte ihn absolut nicht überrascht, wenn der mit einer Flinte aus dem Haus gestürmt wäre, geweckt von dem Zuschlagen einer Autotür, dem Anlassen eines Motors mitten in der Nacht – und seine Frau nicht mehr in ihrem Bett.
Sigríður stieg hinten ins Auto ein und überließ Karl das Fahren. Nun saß Una also neben ihm auf dem Beifahrersitz, und ihm kam es ganz seltsam vor, sie zu chauffieren. Er saß vornübergebeugt und warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf ihre Lederstiefel. Sie passten glücklicherweise doch einigermaßen gut zur kurzen Lodenhose. Es wäre ihm entsetzlich peinlich gewesen, wenn Una auf ihrer ersten gemeinsamen Reise wie ein Harlekin ausgesehen hätte.
Später sagte sie ihm, dass ihr die Tränen gekommen waren, als sie von ihrem Haus wegfuhren, weil sie dieses Haus so sehr liebte, wie man
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