Der gute Liebhaber
Ástuson, der nichts unerträglicher fand, als sich zu blamieren, war froh, dass er zu diesem Zeitpunkt der einzige Gast in dem Lokal war. Und er hatte Glück, der Kellner war anderweitig beschäftigt und konnte ihm keine missbilligenden Blicke zuwerfen.
Während er langsam wieder zu Atem kam, fühlte er sich wie ein Debütant auf den Bahnhöfen dieser Welt. Nicht nur er selber, sondern auch die Atmosphäre kamen ihm unbekannt vor. Summendes Stimmengewirr und gellende Bekanntmachungen, und unten die vielen Menschen, die in alle Richtungen strömten.
Und vor ihm auf dem Tisch lag das Buch,
Der Gute Liebhaber
, ungeöffnet. Er betrachtete das Umschlagbild mit der Kinderhand, der Erwachsenenhand und der Paradiesvogelblume, und in diesem Augenblick hätte er dieses Exemplar am liebsten sofort weggeworfen. Das Buch würde ihn stören. Und er hatte keinen Bedarf an weiteren Störungen aus der Richtung von Doreen Ash.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich einen Kaffee und einen Fernet Branca zu bestellen, denn zu Abend essen wollte er natürlich mit seiner Una. Im entscheidenden Augenblick bestellte er aber nicht Kaffee und Fernet Branca, sondern Kalbssteak und Chianti. Das Gleiche hatte er an jenem Abend mit Doreen Ash gewählt, bevor sie zu ihm nach Hause fuhren. Hätte ihn jemand gefragt, hätte er geantwortet, er würde ihr zu Ehren dasselbe Essen bestellen. Da dieser Abend so viel für sie verändert hatte, wollte er sich solidarisch zeigen und sich nur an das Gute und Schöne erinnern, das sie verband, unter anderem Kalb und Chianti. Nur so konnte man der Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren lassen. War es nicht an der Zeit, einen Strich unter den peinlichen Abschnitt mit dem Rauchen et cetera zu ziehen?
Den
Guten Liebhaber
hatte er immer noch nicht geöffnet, obwohl er seine Neugier kaum zu bezähmen vermochte. Er wartete darauf, dass der Kellner ihm den Rotwein brachte, trank sofort davon (glücklicherweise ein echter Chianti), holte tief Atem und öffnete das Buch.
Auf der Titelseite stand mit schwarzer Tinte:
Für den Guten Liebhaber höchstselbst –
mit einem Maximum an Liebe und Dank,
Doreen Ash.
Wieso brachte sie Liebe mit Maximum in Verbindung? Ein Wort, das in den Zusammenhang von Sünde und Schuld gehörte:
Mea culpa, mea maxima culpa!
Das Gebet, das er selber für seinen Gebrauch übersetzt hatte und manchmal anwandte:
Meine Schuld, einzig und allein meine Schuld!
Was für eine Widmung war das eigentlich:
Für den Guten Liebhaber höchstselbst
?
Er schloss das Buch hastig, ging zur Toilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Was sollte diese Widmung? Ein kleiner Scherz in Erinnerung an einen Abend und eine Nacht vor drei Jahren? Er lächelte in den Spiegel, natürlich war das ein Witz, und trocknete sich das Gesicht mit einem gutgebügelten Taschentuch ab.
Als das Essen auf dem Tisch stand, betrachtete Karl Ástuson den Teller und überlegte. Ausgeschlossen, dieses Buch mit dieser Widmung mit nach Hause zu nehmen. Es blieb nichts anderes übrig, als es zu entsorgen. Er könnte sich ja im Zweifelsfall ein jungfräuliches Exemplar zulegen, falls er das Bedürfnis danach verspürte. Oder?
Wahrscheinlich war es das Beste, dieses Buch mit der übertrieben persönlichen Widmung nicht zu lesen. Der Scherz war geschmacklos. Es würde ihm auch gar nicht nachzuweisen sein, da er der Autorin keine Rechenschaft über den Inhalt abzulegen brauchte. Mit ihrem Blick hatte Doreen Ash gesagt: Wir sehen uns nicht wieder. So viel war klar. Es war Doreen Ashs Art, eine klare Sprache zu sprechen, und zwar nicht nur in Worten. Die Wirkung war seltsam, angenehm und unangenehm zugleich. Wie abwechselnd heiß und kalt duschen; es endete zwar mit robusterem Blutkreislauf und Wohlbefinden, aber die Prozedur war unangenehm.
Karl Ástuson sah von dem italienischen Kalb hoch, das er mit Appetit zu verzehren begonnen hatte, und betrachtete Menschenschlangen, die mit Koffern auf Rädern, Rucksäcken, Plastiktüten in alle Himmelsrichtungen strebten. Nach einem Pattern, das an fliehende Ameisen erinnerte. Wohin waren all diese Menschen unterwegs, und was war in all diesen Behältern? Unterwäsche, Socken, Hemden, Bücher, Zahnbürsten.
Vor siebzehn Jahren hatte er auf der Grand Central Station gesessen, nachdem er gerade in New York angekommen war, überwältigt von der Größe und dem Fluidum der Stadt, überwältigt von dem imposanten und chaotischen Bahnhof, überwältigt davon, allein in der großen Welt zu
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