Der gute Liebhaber
nannte ganz präzise den Moment, in dem er sich so weit in ihr Bewusstsein eingeschlichen hatte, dass es nie wieder rückgängig zu machen wäre, der Mann, den sie von nun an lieben würde, ohne irgendetwas dagegen tun zu können.
Es war sein Lächeln, als er gesagt hatte:
Nur gut, dass es nicht der Regenbogen war
– als sie den Beginn des Lächelns sah; wie sich das Gesicht im Lächeln von den Augen bis zum Mund verzog; wie ein seriöser Passant mit einem Pullover über dem Arm zu einem unbeschwerten Mann mit einem Champagnerglas auf dem Bürgersteig wurde; was für ein beispiellos liebenswertes und jungenhaftes Lächeln es war. Ein spontanes, unkonditioniertes Lächeln.
Die meisten Lächeln sind konditioniert, befand diese Autorin. An und für sich ist das auch gut und schön. ABER : Wenn es darauf ankommt, gibt es vieles, was besser und schöner sein kann. Aber vor allen Dingen: Komm solch einem Lächeln nicht zu nahe.
Hier handelte es sich um ein Lächeln, das nichts anderes zu sein vorgab, als es war; das Lächeln an sich, so etwas wie der Prototyp für alle anderen, und quasi ein Vorläufer des allerersten Lächelns auf dieser Welt. Ein solches Lächeln streckte einen nieder, bedingungslos und auf Anhieb, das war richtig, das war selbstverständlich – anderes war gar nicht möglich.
Aber auch, wenn man sofort und spontan Feuer fing, wurde einem das nicht unbedingt in dem Augenblick klar, wo es geschah, denn so verhielt es sich mit der Zeit und dem Leben und allem, was im Leben wichtig war – immer stellte sich erst später heraus, welche Rolle was spielte. In diesem Fall vergingen zwölf Stunden nach dem Ereignis, nach dem Lächeln, bevor es ihr klar wurde. Es war Liebe, unausweichlich. Unwiderruflich.
Nicht genug damit, dass sie genau wusste, was sie zur Strecke gebracht hatte, sie konnte sogar die Uhrzeit präzisieren. Sie war nämlich auf dem Weg zum Broadway gewesen, wo sie Freunde treffen wollte, und deswegen hatte sie einen Blick auf die Uhr geworfen, bevor sie die Bar betrat und ein Glas Champagner bestellte.
Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sich in den nächsten Minuten ereignen würde, dass sie einen Mann treffen würde, durch den sich alles auf einen Schlag veränderte und der sie verliebt bis über beide Ohren zurück- und von da an der Leere überlassen würde.
Zum zweiten Mal saß Karl Ástuson in der Grand Central Station und weinte. Er weinte über sich selber in der Erinnerung daran, wie er an seinem zwanzigsten Geburtstag auf der Treppe gesessen hatte, mit dem Einzigen, was er besaß: seinem Koffer mit den Sachen und seiner Leere. Er weinte darüber, wie wenig gefehlt hätte, dass Doreens Leere ihm sein ganzes Leben gefolgt wäre. Er weinte über ein Leben, das zu Ende gewesen war, als Una ihn am ersten Dienstagmorgen im August verließ, und das siebzehneinhalb Jahre später wieder begonnen hatte. In einer Februarnacht, als sie in einem langen, veilchenblauen Mantel die Treppe von Silberstrand fünf hinaufstieg. Er weinte über Doreen Ash und den Roman einer Liebe, die mit dem übereinstimmte, was sie selber ihm in ihrem Büro gesagt hatte. Er weinte über die Frau, die für den Rest ihres Lebens so leben müsste, wie er es die ganzen Jahre getan hatte, in einer liebelosen Leere, denn Doreen war ohne Liebe, auch wenn Liina sie liebte; liebelos ist man, wenn man nicht von dem Menschen geliebt wird, den man liebt.
Es blieb nichts anderes übrig, als das Buch zu schließen, das also leider von ihm handelte,
höchstselbst
, und um die Rechnung zu bitten. Der Kellner eilte unverzüglich mit der Rechnung und einer frischen Serviette herbei, damit der Gast sich die Augen trocknen und die Nase putzen konnte. (Das gebügelte Taschentuch war zu nichts mehr zu gebrauchen.) Niemandem außer dem Kellner, der ihn mit einer übertriebenen italienischen Verneigung begrüßt hatte, war ein weinender Mann in der Grand Central Station aufgefallen. Tag für Tag wird auf diesem Bahnhof geweint, nirgendwo auf der Welt ließ es sich besser weinen. Nicht nur in einem Buch.
Im Nebel der Tränen überlegte Karl Ástuson, ob er den
Guten Liebhaber
wegwerfen und sich so schnell wie möglich auf den Heimweg zu Una auf Long Island machen oder auf der New Yorker Seite weiterlesen sollte. Zu Hause konnte er sich mit diesem Exemplar nicht blicken lassen. War es nicht am besten, es in einer sorgfältig ausgewählten Mülltonne zu entsorgen – und damit basta. Dieses Buch war ihm im Wege, es war ein Klotz am
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