Der gute Liebhaber
sein, und allein in seiner kleinen. Keine Ástamama, um sie anzurufen und ihr zu sagen: Ich bin in New York, ich bin dort, wo ich hinwollte. Keine Una, um sie zu umarmen. Und er, das Geburtstagskind, weinte, nachdem er sich auf eine Treppe gesetzt hatte, um Kräfte für die letzte Etappe der Reise zu schöpfen.
Viele Jahre später erfuhr er von einem Buch mit dem Titel:
By Grand Central Station I sat down and wept.
Eine seiner Liebhaberinnen hatte das zitiert, als er ihr von seiner Reise erzählte, vom Beginn seines Amerika-Aufenthalts, von den Tränen. Es war die ganz große Ausnahme, dass er einer Liebhaberin etwas von Bedeutung anvertraute, es war gegen die Regeln, die er
Arbeitsregeln
genannt hatte, um sich über sich selber lustig zu machen. Dieser Verstoß gegen die Regeln war ihm so nahegegangen, dass er den Namen der Liebhaberin verdrängt hatte. Normalerweise ließ er diesen Frauen die Ehre zuteilwerden, sich daran zu erinnern, wie sie hießen.
Er starrte auf sein Essen, auf das Rotweinglas, auf das Exemplar des
Guten Liebhabers
und lauschte aufmerksam den Bekanntmachungen aus den Lautsprechern, wie zum Beweis, dass er tatsächlich in der Grand Central Station war, siebzehn Jahre später, und dass Una, die auf ewig verloren geglaubte, den weiten Weg zu ihm gekommen war.
Als er damals weinend auf der Treppe saß, hatte er sein zukünftiges Leben vor sich gesehen. Er würde in Amerika leben, er würde reich werden, er würde schöne Häuser an wunderbaren Orten besitzen, er würde viele und lange Reisen unternehmen, im Luxus leben und viele Liebhaberinnen haben. Das Einzige, was für ihn von Bedeutung war, hatte er absolut nicht voraussehen können. Aber in versteckten, schlechtbeleuchteten Schlupfwinkeln der Seele hatte er so innig auf Una gehofft, dass er sein ganzes Sinnen und Trachten darauf ausrichtete, es ihr recht zu machen. Ein Haus zu kaufen, das ihr gefallen würde. Möbel nach ihrem Geschmack, ebenso Porzellan und Besteck. Und sie hatte auch an beiden Orten gesagt: Als hätte ich das alles selber ausgewählt.
Und an beiden hatte er geantwortet: Das hast du ja auch.
Er hatte immer noch nicht angefangen, in dem Buch zu lesen. Wieso? Fürchtete er sich vielleicht vor einem Buch? Warum auf einmal diese Feigheit? Er hörte auf zu essen, schob den Teller beiseite, klappte das Buch auf und überflog das Inhaltsverzeichnis, wo unter anderem Titel wie diese zu finden waren:
Am Anfang war die Sonne … Die Nacht, in der es geschah … Narziss ohne Vater … Im Spiegel des Mutterauges … Der Halbschwesterkomplex … Liebesmutter …
Er blätterte weiter und begann zu lesen, ganz vorne. Erstes Kapitel:
Am Anfang war die Sonne
Sie war in Eile, weil sie Freunde am Broadway treffen wollte, aber ein Sonnenfleck an der Ecke von 7. Avenue und 55. Street lockte sie an. Ein guter Grund, um ein Glas Champagner darauf zu trinken, dass die hartnäckige Sonne es nun endlich geschafft hatte, sich zwischen den Wolkenkratzern hindurchzuzwängen und auf dem Bürgersteig vor der Bar und dem Koffergeschäft zu landen. Es war ein Frühlingstag, der mehr Frühling und anschließend einen ganzen Sommer verhieß, und da gehörte es einfach dazu, unversehens einen kleinen Schlenker zu machen und auf einem Bürgersteig stehen zu bleiben und eins mit der Stadt zu werden; mit beginnender Laubpracht im Central Park und lärmenden Vögeln. An einem solchen Nachmittag in der Weltmetropole steht Großes bevor.
Aha, die Gute hatte also die Bar und das Trottoir bei dem Koffergeschäft abgekupfert. Vielleicht gar nicht mal so abwegig, dass ein Romanautor anstelle von unbekannten Orten lieber Schauplätze verwendete, die er kannte.
Er selber war aus der Apple-Geschäftsstelle gekommen und wollte zu seinem Restaurant, dem Italiener in der nächsten Straße. Aber auch er ließ sich unwillkürlich von der Sonne zu einem Schlenker verleiten, und dabei stieß er auf eine Frau in einem weißen Wickelkleid, die allein draußen unter einem Gerüst stand und Champagner trank. Nicht gerade sein Typ, das sah er gleich. Genauer gesagt, nicht schön genug und schon etwas älter. Aber irgendetwas an ihr und ihrem Kleid (und ihren zugegeben erstklassigen Beinen) brachte ihn dazu, in die Bar zu gehen und sich ebenfalls ein Glas Champagner zu bestellen. Er kam gerade noch rechtzeitig nach draußen, bevor sie ihr Glas geleert hatte.
Er:
Man hält es drinnen einfach nicht aus, wenn die Sonne endlich durchkommt.
Sie:
Solange ich denken
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