Der gute Mensch von Sezuan
euch, die Häusermassen sind in der Frühe wie Schutthaufen, in denen Lichter angezündet werden, wenn der Himmel schon rosa und noch durchsichtig, weil ohne Staub ist. Ich sage euch, es entgeht euch viel, wenn ihr nicht liebt und eure Stadt seht in der Stunde, wo sie sich vom Lager erhebt wie ein nüchterner alter Handwerker, der seine Lungen mit frischer Luft vollpumpt und nach seinem Handwerkzeug greift, wie die Dichter singen. Zu den Wartenden: Guten Morgen! Da ist der Reis! Sie teilt aus, dann erblickt sie Wang. Guten Morgen, Wang. Ich bin leichtsinnig heute. Auf dem Weg habe ich mich in jedem Schaufenster betrachtet und jetzt habe ich Lust, mir einen Shawl zu kaufen. Nach kurzem Zögern. Ich würde so gern schön aussehen. Sie geht schnell in den Teppichladen.
HERR SHU FU der wieder in die Tür getreten ist, zum Publikum: Ich bin betroffen, wie schön heute Fräulein Shen Te aussieht, die Besitzerin des Tabakladens von Visavis, die mir bisher gar nicht aufgefallen ist. Drei Minuten sehe ich sie, und ich glaube, ich bin schon verliebt in sie. Eine unglaublich sympathische Person! Zu Wang: Scher dich weg, Halunke! Er geht in die Barbierstube zurück.
Shen Te und ein sehr altes Paar, der Teppichhändler und seine Frau, treten aus dem Teppichladen. Shen Te trägt einen Shawl, der Teppichhändler einen Spiegel.
DIE ALTE Er ist sehr hübsch und auch nicht teuer, da er ein Löchlein unten hat.
SHEN TE auf den Shawl am Arm der Alten schauend: Der grüne ist auch schön.
DIE ALTE lächelnd: Aber er ist leider nicht ein bißchen beschädigt.
SHEN TE Ja, das ist ein Jammer. Ich kann keine großen Sprünge machen mit meinem Laden. Ich habe noch wenig Einnahmen und doch viele Ausgaben.
DIE ALTE Für Wohltaten. Tun Sie nicht zu viel. Am Anfang spielt ja jede Schale Reis eine Rolle, nicht?
SHEN TE probiert den durchlöcherten Shawl an: Nur, das muß sein, aber jetzt bin ich leichtsinnig. Ob mir diese Farbe steht?
DIE ALTE Das müssen Sie unbedingt einen Mann fragen.
SHEN TE zum Alten gewendet: Steht sie mir?
DER ALTE Fragen Sie doch lieber …
SHEN TE sehr höflich: Nein, ich frage Sie.
DER ALTE ebenfalls höflich: Der Shawl steht Ihnen. Aber nehmen Sie die matte Seite nach außen.
Shen Te bezahlt.
DIE ALTE Wenn er nicht gefällt, tauschen Sie ihn ruhig um. Zieht sie beiseite. Hat er ein wenig Kapital?
SHEN TE lachend: O nein.
DIE ALTE Können Sie denn dann die Halbjahresmiete bezahlen?
SHEN TE Die Halbjahresmiete! Das habe ich ganz vergessen!
DIE ALTE Das dachte ich mir! Und nächsten Montag ist schon der Erste. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen. Wissen Sie, mein Mann und ich waren ein wenig zweiflerisch in bezug auf die Heiratsannonce, nachdem wir Sie kennengelernt haben. Wir haben beschlossen, Ihnen im Notfall unter die Arme zu greifen. Wir haben uns Geld zurückgelegt und können Ihnen die 200 Silberdollar leihen. Wenn Sie wollen, können Sie uns Ihre Vorräte an Tabak verpfänden. Schriftliches ist aber zwischen uns natürlich nicht nötig.
SHEN TE Wollen Sie wirklich einer so leichtsinnigen Person Geld leihen?
DIE ALTE Offen gestanden, Ihrem Herrn Vetter, der bestimmt nicht leichtsinnig ist, würden wir es vielleicht nicht leihen, aber Ihnen leihen wir es ruhig.
DER ALTE tritt hinzu: Abgemacht?
SHEN TE Ich wünschte, die Götter hätten Ihrer Frau eben zugehört, Herr Deng. Sie suchen gute Menschen, die glücklich sind. Und Sie müssen wohl glücklich sein, daß Sie mir helfen, weil ich durch Liebe in Ungelegenheiten gekommen bin.
Die beiden Alten lächeln sich an.
DER ALTE Hier ist das Geld.
Er übergibt ihr ein Kuvert. Shen Te nimmt es entgegen und verbeugt sich. Auch die Alten verbeugen sich. Sie gehen zurück in ihren Laden.
SHEN TE zu Wang, ihr Kuvert hochhebend: Das ist die Miete für ein halbes Jahr! Ist das nicht wie ein Wunder? Und was sagst du zu meinem neuen Shawl, Wang?
WANG Hast du den für ihn gekauft, den ich im Stadtpark gesehen habe?
Shen Te nickt.
DIE SHIN Vielleicht sehen Sie sich lieber seine kaputte Hand an, als ihm Ihre zweifelhaften Abenteuer zu erzählen!
SHEN TE erschrocken: Was ist mit deiner Hand?
DIE SHIN Der Barbier hat sie vor unseren Augen mit der Brennschere zerschlagen.
SHEN TE über ihre Achtlosigkeit entsetzt: Und ich habe gar nichts bemerkt! Du mußt sofort zum Arzt gehen, sonst wird deine Hand steif und du kannst nie mehr richtig arbeiten. Das ist ein großes Unglück. Schnell, steh auf! Geh schnell!
DER ARBEITSLOSE Er muß nicht zum Arzt,
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