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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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öffnet sich einen Spalt, und unwillkürlich wirbelt eine Einschätzung durch sein Gehirn: »Sie ist jemand, der sich schwach fühlt.«
    Sie nickt.
    »Sie fühlt sich einsam, vernachlässigt, verletzt.«
    Sie nickt wieder.
    »Sie ist ein Kind.«
    Tränen. In Wirklichkeit eine einzelne Träne – klein, demütig – , die lautlos das Tal zwischen der Wölbung der Wange und dem Nasenrücken hinabrollt. Und nicht von einem Verzerren des Gesichts begleitet wird, sondern still ihre Bahn zieht, allein.
    Der Psychologe lehnt sich zurück, nimmt die Schachtel mit den Papiertaschentüchern vom Schreibtisch und reicht sie ihr. Sie zieht eines heraus, schnäuzt sich kraftlos die Nase und knetet es dann in ihren Händen, die zwischen ihren Schenkeln liegen.
    »Erzählen Sie mir von ihr«, sagt er.
    »Einerseits ist sie wie alle Mädchen«, sagt sie nachdenklich und vorsichtig. »Sie spielt mit Puppen. Sie tanzt vor dem Spiegel. Sie träumt in den Tag hinein. Sie mag Süßigkeiten. Doch dann ist auch ist sie wieder anders.«
    »Inwiefern ist sie anders?«
    »Sie hat Geheimnisse.«
    »Alle Mädchen haben Geheimnisse.«

    »Sie hat beängstigende Geheimnisse.«
    »Sie irren sich«, sagt er. »Sie tanzt nicht gern vor dem Spiegel. Sie verkriecht sich unter einer Decke. Sie ist in einer warmen, geschützten Höhle.«
    »Nein. Sie versteckt sich nachts im Schrank.«
    »Sie versteckt sich«, wiederholt er.
    Sie nickt.
    Er blickt auf die Uhr. Die Stunde ist um.
    »Unsere Zeit für heute ist um, wir hören hier auf«, sagt der Psychologe. »Wir haben Fortschritte gemacht.«
    »Ihre Regeln sind ärgerlich.«
    »Die Regeln sind meine, die Verärgerung ist Ihre, und sie ist hier erlaubt, sogar willkommen. Danke.«
    »Danke wofür?«
    »Für Ihre emotionale Reaktion. Ihre Frustration ist eine menschliche Empfindung. Sie ist Beweis dafür, dass Sie eine von uns sind.«
    »Eine von uns?«
    »Ein menschliches Wesen. Keine Außerirdische. Kein Unmensch. Kein halber Mensch. Ganz und gar Mensch, mit allen dazugehörigen Emotionen. Das ist gut.«
    »Sie sind seltsam, Doktor.«
    »Warum sagen Sie das?«
    »Sie bedanken sich, wenn ich wütend werde.«
    »Was hatten Sie erwartet, was ich sagen würde?«
    »Die Menschen, die ich kenne, sagen nicht danke, wenn ich sauer werde.«
    »Vielleicht sind sie seltsam.«

10
    A m nächsten Tag kauft er in seinem Büro auf dem Campus via Internet ein Ticket nach Chicago. Im Programm der Konferenz entdeckt er Schacters Vortrag Von den Sünden der Erinnerung, sieben, immerhin. Von seinem Fenster aus betrachtet er den manikürten Rasen, der von rechtwinklig zueinander angelegten Streifen gestutzter Büsche eingefasst wird. Eine endlose Prozession junger Frauen in tiefsitzenden Jeans zieht auf dem Weg zwischen der Bibliothek und dem Campuscenter vorbei. Er begehrt sie nicht mehr, nur noch ihre Essenz, den Duft der Jugend, der von ihrer zarten, schimmernden Haut aufsteigt. Inmitten des Durcheinanders aus Kleidern jeder Farbe, den Blusen, Schals, Ketten und Hüten zieht ein Aufblitzen nackter Haut dennoch stets seine Aufmerksamkeit auf sich, wie eine ferne Oase. Worin liegt das Geheimnis nackter Haut?, fragt er sich. Wie kommt es, dass inmitten all dieser Texturen und Farben und Schnitte und Schichten und Lagen von Baumwolle, Lycra, Satin und Seide ein Fleckchen nackter Haut als Einziges singt, als Einziges schlägt wie das Herz eines Säuglings zwischen den aufgeschichteten Decken und in solch lebendiger Einzigartigkeit erklingt? Geht das alles zurück auf Harlows arme Affen, die sich verbissen an ihre Stoffmutter klammern? Plötzlich fühlt er sein Herz heftig pochen. Wie lange ist es her, seit er Nina zuletzt gesehen hat? Vier Jahre, fünf? Er erinnert sich an ihren letzten gemeinsamen Abend bevor sie ging. Sie hatte sich unter irgendeinem Vorwand aus dem Haus gestohlen und war in seine
Wohnung gekommen. Sie hatten sich an den quadratischen Tisch gesetzt, und er hatte Tee gekocht.
    »Alles gepackt?«, fragte er.
    Sie nickte: »Die Möbelpacker kommen morgen früh. So viele Kisten … Unglaublich. Man hat keine Vorstellung davon, wie viel Zeug man gehortet hat, bis man umzieht.«
    »Und du, du hast gehortet?«
    »Ja, hab ich.«
    Dann nahm sie seine Hand in die ihre. So saßen sie da, einander gegenüber, schweigend über ihre Teetassen gebeugt. Danach begleitete er sie zur Tür. Sie standen an der Tür, und dann kniete er nieder, legte die Arme um ihre Taille und seinen Kopf an ihren Bauch. Sie hielt seinen Kopf

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