Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Notlandung«, unterrichtet sie sie über die krächzende Lautsprecheranlage, »kann das Sitzpolster als Schwimmhilfe dienen. Im Falle eines Druckverlusts in der Kabine fallen automatisch Sauerstoffmasken von der Decke. Passagiere mit Kindern sollten die Maske zuerst sich selbst aufsetzen und sie dann ihrem Kind anlegen.« Der Psychologe sinnt über ihren Monolog nach, über die tiefe Befremdlichkeit dieses wiederholten Herunterbetens der Einzelheiten einer zukünftigen Katastrophe, die so erklärbar wie unvorstellbar sind. Wie viele Stewardessen auf wie vielen Flügen haben lakonisch genau diese Ansprache hinter sich gebracht, die jeder Passagier schon tausendmal gehört und doch nicht gehört hat; gehört, aber nicht verinnerlicht; gehört, aber verdrängt; gehört und belächelt; gehört und geschaudert? Und wurde je ein Passagier eines dem Untergang geweihten Flugzeugs durch diese Schwimmhilfe gerettet; gerettet, indem er mit all seiner unbedeutenden Kraft ein schmutziges Kissen umklammerte, während die riesige Metallkapsel
eine Rauchfahne hinter sich herzog und durch die Wolken in Richtung Meer trudelte, zu diesem leidenschaftslosen, effzienten Totengräber? Wortverschwendung, denkt er für sich. Warum diese traurige, hohle Ansprache endlos wiederholen? Andererseits gefällt ihm die Sache mit der Sauerstoffmaske und hellt seine Gedanken beträchtlich auf. Die Mutter sollte die Maske zuerst sich selbst aufsetzen und erst dann ihrem Kind. Scheinbar widerspricht dieses Vorgehen grundsätzlich der Intuition, tatsächlich illustriert es jedoch wunderbar das Prinzip eines gesunden Altruismus, denkt er. Er könnte sich diese Analogie sehr gut bei seinen Klienten zunutze machen. Nicht bei den weniger Begünstigten, die möglicherweise noch nie in einem Flugzeug saßen. Und er muss vorsichtig sein, da die Erwähnung eines Flugzeugs generell dazu beiträgt, die Herzfrequenz seiner Klientel in die Höhe zu treiben. Doch bei den saturierten Städtern, den Kleinbürgern mit ihrem immerwährenden Verdruss ob ihres Scheiterns, inmitten all ihres Wohlergehens Zufriedenheit zu finden – bei ihnen würde es bei dieser Analogie klick machen: Sich um andere zu kümmern beginnt damit, sich um sich selbst zu kümmern. Und während er noch damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, hat das Flugzeug an Höhe verloren und ist gelandet.
Beim Verlassen der Ankunftshalle wird er zur Begrüßung unvermittelt von einem kalten Windstoß getroffen. Er vergräbt sich in seiner abgetragenen Lederjacke, zieht die Schultern hoch und den Kopf ein und flucht auf die Luft. Ein gelbes Taxi fährt heran, und der Fahrer, ein allmählich kahl werdender, kräftig gebauter, dunkelhäutiger Mann, kommt mit einem sichtbaren Hinken auf ihn zu und erkundigt sich mit ausländischem Akzent: »Wohin?«
»Hilton, the Loop.«
Der Fahrer nimmt ihm die Tasche ab und wirft sie in den Kofferraum, schließt mit einem Knall den Deckel und rutscht mit einer einzigen, routinierten Bewegung wieder auf seinen Sitz. Sie werden vom Verkehrsstrom geschluckt, und der Fahrer widmet sich sofort einem Telefongespräch, das schon vor Jahren, vor Generationen, begonnen zu haben scheint. Das Telefon hängt auf seiner Brust, und ein kleines Hörteil steckt ihm im Ohr. Er wedelt mit der Hand und redet aufgeregt in einer unbekannten, krächzenden, kehligen Sprache. Dann bricht er in herzhaftes Gelächter aus. Daraufhin entsteht eine kurze Stille. Der Fahrer wendet sich an den Psychologen und heftet dazu mit einer allen Taxifahrern eigenen Bewegung den Blick auf den Rückspiegel: »Zum ersten Mal in Chicago?«
»Nein. Ich komme regelmäßig zu Besuch.«
»Geschäftlich oder zum Vergnügen?«
»Geschäftlich«, antwortet er höflich.
»Welche Art von Geschäft?«
»Psychologie.«
»Leute behandeln?«
»Ja, und ich unterrichte auch.«
»Ich glaube nicht an Psychologie«, sagt der Fahrer.
»Damit stehen Sie nicht allein. Woran glauben Sie?«
»An Allah.«
»Darin sind Sie nicht allein.«
»Meine Tochter will Psychologie studieren.«
»Glaubt sie nicht an Allah?«
Der Fahrer zuckt die Schultern: »Sie weiß es nicht. Die Stadt verwirrt die jungen Leute.«
»Verwirrtsein ist kein Verbrechen.«
»Wenn man Allah hat, braucht man nicht verwirrt zu sein.«
Der Fahrer hält unter der hell erleuchteten Markise vor dem
Hoteleingang. Zwei Türsteher in gebügelter Uniform kommen auf sie zu.
»Hilton«, sagt der Fahrer. Er steigt aus und hebt die Tasche aus dem Kofferraum,
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