Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
hinaufgeflogen ist, und jetzt geht ihm der Treibstoff aus, jetzt ist er ein dem Untergang geweihtes Flugzeug, das in einer Spirale aus Rauch Richtung Erde trudelt. Halte dich an deinem Sitzpolster fest, sagt er bitter zu sich, halte dich ganz fest, du Dummkopf, und mach dich bereit für eine Notlandung. Hier baumeln die Sauerstoffmasken vor deinem Gesicht; Passagiere mit Kindern sollten die Masken zuerst sich selbst aufsetzen und dann ihren Kindern. Billies perlendes Lachen klingt ihm in den Ohren, ihre seidigen Locken, die Mandelaugen; ihm geht die Luft aus. Er richtet sich auf seinem Stuhl auf, legt eine Hand auf den Bauch und die andere auf die Brust. Tief Luft holen, sagt er sich, ins Zwerchfell atmen. Die Hand auf seiner Brust bleibt ruhig, während die auf seinem Bauch sich beim Einatmen hebt. Korrekte Atmung.
Schritt für Schritt, rücke vorsichtig vom Klippenrand ab. Fange an, klar zu denken. Du hast versagt. Daran gibt es keinen Zweifel. Und was bedeutet das? Ein Mensch gerät unvermeidlich hin und wieder ins Stolpern, und auf lange Sicht, wer weiß? Ein Schmetterling in Afrika, ein Hurrikan in Australien. Du hast sie verletzt, aber sie ist wehrhaft. Sei ihr gegenüber nicht herablassend. Sie wird für sich sorgen. Und was ist mit dir? Wer sorgt für dich? Er steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Ich werde warten. Ihr Freiraum geben, denkt er. Geduldig sein und gelassen bleiben. Vielleicht ist nichts passiert; ein vorübergehender Rückschlag; ein verzeihliches Stolpern. Wir werden das bewältigen und zur alten Ordnung zurückkehren. Ich werde warten. Doch unter diesen berechnenden Gedanken wächst etwas anderes heran; dunkel, mit spitzem Kinn erhebt es sich und dringt an die Oberfläche seines Bewusstseins. Billie, mein Kind, ich komme; dein Vater, dein Vater ist unterwegs.
Er ruft Nina an.
»Hallo?«
»Nina, ich bin es.«
Augenblicklich eisiges Schweigen.
»Ja.«
»Wie geht es dir?«
»Ganz gut. Ich bin gerade beschäftigt.«
»Wir müssen reden.«
Das Summen der Statik in der Leitung.
»Nina?«
»Ich bin gerade beschäftigt.«
»Ich versuche es nächste Woche.«
»Ja, Wiedersehen.« Sie legt auf.
Er ist wie vor den Kopf geschlagen, lehnt sich zurück, reibt sich mit der Hand über die Stirn; er steht auf und nimmt seinen
Mantel und geht hinaus, um durch die Straßen zu wandern. Seine Gedanken jagen wild durcheinander und sind wie betäubt. Er geht an der verlassenen Autowaschanlage vorbei, ein paar Stufen hinunter und schlendert durch das neue Einkaufszentrum, das langsam aus Schichten von Stahl und Glas entsteht. Die Luft ist eiskalt und wie versiegelt. Der Psychologe geht die Treppe hinunter zu dem asphaltierten Spazierweg, der sich in die Biegungen des vereisten Flusses schmiegt. In den Sommermonaten ist dieser Ort voller promenierender Familien, ineinander verschlungener Paare, Kinder, die am Teich die Enten füttern; der Wind fährt in das Laub der Bäume, die Frösche quaken unter den Seerosen, Fische gleiten durch ihre lautlose Welt. Doch jetzt ist alles still und verlassen und schneebedeckt. Der Psychologe schreitet rasch aus; seine Stiefel lassen das Eis auf dem Gehweg knirschen. Eine mittägliche Sonne späht schwach durch einen schmutzigen Wolkenvorhang. Er schiebt die Hände in die Taschen und wandert ziellos umher, als hätte die Kälte sein Denken eingefroren. Er geht zurück zur Straße und kommt zu einer kleinen Bar. Ein unbeleuchtetes Neonschild hängt windschief in der Eingangstür. Er drückt die Tür auf und tritt ein. Das Lokal ist leer. In der Ecke befindet sich ein alter Billardtisch. Hinter der Bar steht ein gebückter, eher kleiner, knorriger Mann mit Pferdeschwanz und ist damit beschäftigt, mit einem weißen Tuch Gläser abzutrocknen. Der Mann sieht ihm mit einem freundlichen kleinen Lächeln entgegen.
»Kalt«, sagt er.
»Winter«, sagt der Barmann.
»Wie wär’s mit einem Spiel?«, fragt der Psychologe ihn unvermittelt und deutet auf den Billardtisch.
»Ich spiele nicht, ich arbeite«, sagt der Mann.
Der Psychologe nickt. Er bezahlt für einen Satz Kugeln,
nimmt ihn mit und platziert ihn auf dem Tisch. Er nimmt einen Queue, reibt ein wenig Kreide auf die Spitze und beugt sich über den Tisch. Er versenkt die Kugeln eine nach der anderen in den Taschen. Er umrundet den Tisch, bedenkt und berechnet Winkel, Stoßmöglichkeiten, Spielzüge. Der Mann hinter der Bar beobachtet ihn und ahnt im entschlossenen Umkreisen des Tisches durch den Besucher einen
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