Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
schwachen Nachhall von Wut. Eine Kugel nach der anderen fällt mit einem trockenen Klicken und einem Seufzer in die Taschen. Schließlich sind nur noch die weiße Kugel und die schwarze Acht in der gegenüberliegenden Ecke übrig. Der Psychologe beugt sich hinter der weißen Kugel über den Tisch und nimmt ein letztes Mal Maß. Er hört ein Rascheln an seiner Seite. Er blickt auf und sieht den Barmann mit einem wissenden Lächeln neben sich stehen. Der Barmann stellt eine Bierflasche auf ein Tischchen in der Nähe und sagt: »Die hier geht aufs Haus.« Dann wirft er einen prüfenden Blick auf den Billardtisch und sagt: »Beim Pool ist alles reine Geometrie, mit Ausnahme der letzten Kugel.« Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und sagt: »Diese letzte Kugel, die ist Psychologie.«
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H eute Abend gedenken wir Gordon Allports, der hier in der
Nähe, im amerikanischen Mittelwesten, geboren wurde, inmitten der gleichen Mais- und Sojabohnenfelder, die auch uns umgeben«, sagt der Psychologe. »Diese Felder erzählen die Geschichte des jungen Gordon, der nach einem Jahr als Englischlehrer in Istanbul beschloss, auf der Heimreise in Wien Station zu machen, und dem es gelang, eine Begegnung mit dem alten Freud höchstpersönlich zu vereinbaren. Allport betrat ganz vorsichtig das Sprechzimmer des alten Meisters. Freud setzte sich dem jungen Mann gegenüber, beobachtete ihn und wartete schweigend ab, wie er das gewöhnlich tat. Allport war jung und eifrig und fühlte sich mit Schweigen an sich nicht besonders wohl, und er beschloss, es mit ein wenig Small Talk zu versuchen, und fing an, dem alten Analytiker eine Episode zu beschreiben, die sich früher am Tag zugetragen hatte. Im Zug waren ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, und seine Mutter mitgereist. Der Junge schien sich vor Schmutz zu ekeln und sagte immer wieder zu seiner Mutter: Ich möchte hier nicht sitzen; es ist schmutzig; lass nicht diesen schmutzigen Mann neben mir sitzen. Ihm kam alles schmutzig vor. Die Mutter des Jungen, bemerkte Allport, schien eine ordentliche, dominante und strenge Frau zu sein, und die Verbindung zwischen ihr und dem Verhalten des Jungen schien offensichtlich. Als er zu Ende gesprochen hatte, sah Freud ihn mit seinem berühmten durchdringenden Blick aufmerksam an und fragte: Und waren Sie dieser kleine Junge?
Diese Begegnung führte Allport zu dem Schluss, dass Freud – auf das Leben seiner Patienten, ihre Neurosen und Verteidigungsmechanismen und unbewussten Motive konzentriert, wie er war – die Oberfläche vernachlässigt hatte. In seinem Bemühen, das Verborgene zutage zu fördern, hatte er das Offensichtliche übersehen. Tiefenpsychologie, stellte Allport fest, ist häufig zu tief, und ironischerweise drückte er mit diesem Gefühl eine tiefe Einsicht aus. Einer der wichtigsten Beiträge Allports zu unserem Tätigkeitsfeld ist ein Prinzip, das uns dabei unterstützt, eine der größten Fallen in der Therapie ausfindig zu machen. Es handelt sich dabei um das Prinzip der funktionellen Autonomie der Motive. Es drückt eine einfache Wahrheit aus: Das, was einen Prozess in Gang setzt, ist nicht notwendigerweise identisch mit dem, was ihn in Gang hält. Zum Beispiel sind die Gründe, weshalb Sie mit dem Rauchen anfingen – um die Mädchen zu beeindrucken und sich gegen Ihre Eltern aufzulehnen –, nicht mehr dieselben, aus denen Sie mit fünfzig immer noch rauchen, da Ihre Eltern inzwischen tot sind und die Mädchen überhaupt nicht mehr beeindruckt. Was Sie zum Heiraten bewegt, ist nicht identisch mit dem, was Sie verheiratet sein lässt. Der junge Psychologe sucht nach dem Ursprung für die Probleme des Klienten und glaubt, wenn er den Ursprung findet, habe er die Probleme gelöst. Als Kind wurden Sie von einem bösartigen Hund angefallen, deshalb haben Sie heute große Angst vor Hunden. Ende der Geschichte. Nun, eigentlich nicht. Der furchteinflößende Hund aus Ihrer Kindheit erklärt, wie Ihre Angst vor Hunden begann, aber nicht, warum Sie sich heute, nach all diesen Jahren, immer noch vor ihnen fürchten, da Sie kein Kind mehr sind und es diesen einen Hund längst nicht mehr gibt. Die Geschichte aus Ihrer Kindheit erklärt Ihre kindliche
Reaktion, nicht aber Ihre heutige. Was kann Ihre heutigen Reaktionen erklären, Jennifer?«
»Die Reaktion, äh, wenn ich es richtig verstehe«, sagt sie zögernd, »hält sich über Jahre, weil man der Ursache aus dem Weg geht. Das Mädchen, das anfing, sich vor Hunden
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