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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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zu fürchten, fürchtet sich weiter vor ihnen, weil sie ihnen aus dem Weg geht. Ihre Begegnung mit dem Hund begann mit Angst, aber Hunden aus dem Weg zu gehen hält diese Angst lebendig, denn sie kann nicht neu lernen, nicht von der heutigen Realität lernen …«
    »In der Tat«, sagt der Psychologe, »gut formuliert. Und das führt uns zu unserem nächsten Punkt des heutigen Tages: der falschen Tyrannei der Kindheit. Die fundamentale Maxime, das Kind sei der Vater des Mannes, wie Wordsworth es ausdrückte, ist ein Fluch für die Psychologie und ein Hindernis in der Therapie. Dieser Gedanke, der für Freud und seine Anhänger grundlegend war, kristallisierte sich, das dürfen wir nicht vergessen, in einer ganz bestimmten geschichtlichen Periode heraus, im späten 19. Jahrhundert, als die Frauen der aufstrebenden europäischen Mittelschicht plötzlich Zeit zur Verfügung hatten; als die Schranken zwischen den Schichten durchlässig wurden und die Möglichkeit, auf der sozialen Leiter auf- oder abzusteigen real und greifbar wurde, weshalb das Unterfangen, für die Zukunft der Familie Kinder großzuziehen, plötzlich an Bedeutung gewann und zu einem respektablen Zeitvertreib wurde und zu einem Anker inmitten stürmischer sozialer Umbrüche. Und exakt diese Vorstellung hat bis zum heutigen Tag überlebt, wenn im Fernsehen die gefallene Berühmtheit des Tages ihr jüngstes Fehlverhalten stets damit rechtfertigt, dass sie unter Applaus und empathischem Nicken des Publikums irgendein Leid aus ihrer Kindheit gesteht. Und
in ebendiesem Moment spielt irgendwo in Amerika eine besorgte Mutter ihrem schlafenden Kleinkind klassische Musik vor, um die Entwicklung seines Gehirns zu fördern, damit es nicht hinter Gleichaltrigen zurücksteht, damit die Gerüste, die seine sich wunderbar vor ihm aufscheinende Zukunft stützen, nicht schwächeln und kollabieren, damit das verschlafene kleine Mädchen seiner Mutter nicht wegen Vernachlässigung negative Gefühle entgegenbringt. Und all diese Aufregung überträgt sich überall dort auf das Sprechzimmer und dringt in es ein, wo sowohl der Psychologe als auch der Klient der Überzeugung sind, der Schlüssel zum Jetzt liege in der fernen Vergangenheit, und je ferner diese Vergangenheit, desto größer ihre Macht. Wie eine Fantasievorstellung von einem fremden Land, das in weiter Ferne liegt und daher exotisch und reizvoll ist, verführt uns auch die Kindheit dazu, in ihr nach den Schlüsseln zu unserem heutigen inneren Aufruhr zu suchen.«
    Der Psychologe hält inne, holt tief Luft und lehnt sich an den Computertisch. Die Studenten starren ihn schweigend an.
    »Und was wollen Sie damit sagen«, fragt das pinkhaarige Mädchen schließlich, »dass die Kindheit nicht wichtig ist?«
    »Wichtig, ja. Entscheidend, nein. Informativ, ja. Und an dieser Stelle muss ein guter Psychologe doppelt vorsichtig sein, denn mit Sicherheit betritt der Klient mit ebendieser besonderen Geschichte seine Praxis: Der Schlüssel zu meinen Problemen von heute liegt in meinen Erfahrungen von damals. Und die Versuchung ist groß, dem Klienten zu geben, was er sucht, nämlich Unterstützung seiner eigenen Vermutungen und seiner Weltsicht, die letztlich eine psychologische Weltsicht ist. Doch ich möchte Ihnen eine einfache Frage stellen: Wenn eine liebevolle Kindheit, eine ruhige Kindheit, erfüllt von Mutterliebe und stimulierendem Spiel, der Schlüssel ist zu einem
gesunden Charakter und einem guten Leben, wie kommt es dann, dass überall auf der Welt auf tausend verschiedene Arten Kinder großgezogen werden, in Armut und Wohlstand, mit oder ohne Schläge, mit oder ohne Geschwister, in einer Stadt, einem Dorf, einer Pension oder einer Kommune oder einem Waisenhaus, in kleinen oder großen Familien, manche in Zimmern, die vor Spielzeug überquellen, und manche in Lehmhütten, in denen die Hühner scharren, in Wolkenkratzern und Iglus, fest in Decken gewickelt und in einem ruhigen Zimmer allein gelassen, oder erdrückt und unendlich verwöhnt, in der Obhut der Alten hier und unter Obhut der Geschwister dort, wie kommt es dann, dass die allermeisten von ihnen, ungeachtet der unterschiedlichen Umstände und Gebräuche, zu normalen und glücklichen und im Kontext ihrer Kulturen funktionstüchtigen Menschen heranwachsen? Sie sprechen mit zwei Jahren, übernehmen mit sieben Pflichten im Haushalt, werden zur rechten Zeit erwachsen und fügen sich geschmeidig und problemlos in den Strom des Lebens ein. Und wie wollen Sie

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