Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
andererseits den mörderischen Vormarsch der Geschichte erklären? Die Vergewaltigung Nankings; die Gräueltaten Maos und Stalins, den kambodschanischen Genozid und die Völkermorde in Bosnien und Ruanda? Deutschland in den Vierzigerjahren und Darfur heute? Wie wollen Sie diese zig Millionen Menschen erklären, die sich über Nacht oder im Laufe einer knappen Dekade in mörderische Bestien verwandeln, die ihre eigenen Nachbarn und Freunde vernichten, mit denen sie noch gestern zusammensaßen und lachten und spielten und Urlaub machten und eine Kultur teilten, eine Sprache, eine Zukunft? Wollen Sie sagen, dass all diese Menschen eine schlimme Kindheit hatten? Der Nachbar, der zum Dieb wurde, zum Gauner und zum blutrünstigen Mörder, der der Not seiner Opfer
die kalte Schulter zeigt, wurde er von seiner Mutter nicht geliebt? War er nicht ihr Augapfel? Hat sie ihn nicht geherzt und gebadet und in weiche Decken gewickelt? Und der Folterknecht, der seine Opfer an einen Haken an die Decke hängte, der ein Kind mit ausgestochenen Augen zu seinen Eltern zurückschickte, hat seine Mutter ihn nicht geliebt und ihm süße Wiegenlieder vorgesungen und ihn an den Rippen gekitzelt und ihm die Brust gegeben und ihn fest in ihre wärmenden Arme genommen? Und der Mörder, der ein Kleinkind in die Luft wirft und es unter bösartig aufheulendem Gelächter vor den Augen der Mutter mit dem Messer aufspießt, hat er nicht mit seinem Vater im Garten Fangen gespielt? Hat er nicht vor Jahren seinen Welpen gestreichelt und liebevoll auf ihn eingeredet? Was sagen Sie dazu? Wollen Sie behaupten, sie alle seien von ihren Eltern zurückgewiesen worden? Sie alle seien ihre ganze Kindheit lang von ihren Eltern verflucht und vernachlässigt worden? Wer wird es wagen, eine solche Behauptung aufzustellen?«
Ein gespanntes Schweigen legt sich über das Klassenzimmer.
»Wow, Professor«, sagt Eric, »Sie haben hier starke Gefühle.«
Der Psychologe atmet tief durch. Das Lächeln der weißzahnigen Mädchen ist wie weggewischt.
»Irgendetwas in Ihrer Kindheit?«, fragt Eric.
Sie lachen verlegen darüber, doch der Psychologe, zu sehr in einer plötzlichen inneren Unruhe gefangen, bemerkt es nicht. Sein Blick wandert zum Fenster. Ein dürrer Zweig raschelt draußen im Wind und schlägt an das Glas, peitscht wütend dagegen und verharrt dann, lehnt sich an und streift darüber. Der Psychologe erstarrt jäh, sein Atem stockt, und ein stechender Blitz fährt ihm in den Magen. In seinem Kopf dreht sich alles. Doch er tritt einen Schritt vor und reißt sich zusammen.
»Von meinem Ausbruch hier einmal abgesehen«, sagt er ruhig, »müssen Sie eines begreifen: Die menschliche Gattung, unsere Gewohnheiten und Sitten und die Beschaffenheit unserer Seele haben sich im Laufe der Zeit in einem unendlichen Prozess herausgebildet, der nicht mit fünf oder fünfzehn oder fünfzig oder fünfundneunzig Jahren endet. Und es gibt keinen Konstrukteur. Es gibt keinen Vorsitzenden. Niemand trägt die Verantwortung. In diesem Prozess arbeiten und konkurrieren viele Kräfte miteinander, und es wäre nicht korrekt, eine davon für überlegen zu erklären. Und die Alchimie, mit der diese Wirkkräfte interagieren, ist größtenteils unbekannt, und aus diesem Grund tut der Psychologe, der durch einen tiefen dunklen Wald tappt, gut daran, ein gerütteltes Maß an Demut und Ehrfurcht mitzubringen.«
Nathan zupft an seiner Krawatte, er räuspert sich und hebt die Hand. »Meiner Meinung nach und ohne über jemanden urteilen zu wollen«, sagt er, »glaube ich, dass jemand die Verantwortung trägt. Da ist Gott. Und ich tue nicht ab, was Sie gerade gesagt haben. Doch wie ich es sehe, gibt es so etwas wie eine Geologie des Universums, so etwas wie Schichten. Und über Ihrer Schicht ohne Gott, die möglicherweise so funktioniert, wie Sie es beschreiben, wie die Schicht der Erde und der Bäume und der Tiere, gibt es einen Gott und eine obere Schicht aus Wind und Himmel.«
33
A m Nachmittag steht der Klavierstimmer, ein vierschrötiger Asiate mit Schlupflidern, vor seiner Wohnung. Er kommt langsam herein, und hinter ihm her stapft sein Sohn, ein bleistiftdünner Junge mit kantigem Kiefer, dessen Augen, die hinter dem schwarzen Vorhang seiner Haare hervorspähen, nahelegen, dass er gegen seinen Willen hierhergeschleppt wurde. Der Klavierstimmer geht durch das Wohnzimmer auf das schlafende Klavier zu. Er hebt den Deckel, bückt sich und schlägt auf den wunden Tasten ein paar nervöse
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